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Alles für die Insekten: Hans-Dietrich Reckhaus in einer der unternehmenseigenen insektenfreundlichen Ausgleichsflächen. Mit „Insect Respect" hat er ein Gütesiegel für einen respektvollen Umgang mit den Sechsbeinern entwickelt.  - © Wolfgang Rudolf
Alles für die Insekten: Hans-Dietrich Reckhaus in einer der unternehmenseigenen insektenfreundlichen Ausgleichsflächen. Mit „Insect Respect" hat er ein Gütesiegel für einen respektvollen Umgang mit den Sechsbeinern entwickelt.  | © Wolfgang Rudolf

Tierschutz anders Insekten schützen statt vernichten

Seit mehr als 60 Jahren entwickelt und produziert die Firma Reckhaus Produkte, die Insekten töten. Hans-Dietrich Reckhaus übernahm sie von seinem Vater – und will nun Fliegen, Ameisen und Motten lieber retten.

Julia Fahl
30.09.2020 | Stand 21.10.2020, 15:39 Uhr

Mücken, die unser Blut mit Vorliebe abends im Schlafzimmer wollen. Fruchtfliegen, die über Obstteller herfallen. Oder Wespen, die beim Grillabend mitessen. Insekten können uns ziemlich plagen. Wir nehmen die artenreichste Tierklasse der Welt meist nur als Schädlinge wahr. Auch deshalb sind Zahl und Artenvielfalt stark gesunken. Dabei haben Insekten einen unschätzbaren Wert. Der Bielefelder Insektenretter und Unternehmer Hans-Dietrich Reckhaus fasst es in einem seiner Bücher zusammen: „Sie halten die Pflanzenwelt am Leben, stärken die Widerstandskraft der Natur, machen unsere Böden fruchtbar, produzieren unsere Nahrungsmittel mit. Und auch für die Textilproduktion sind sie unverzichtbar."

Familienunternehmen Reckhaus ändert sich

Vor acht Jahren hatte der heute 54-Jährige eine Begegnung, die dafür sorgte, dass er, der 1995 das florierende Insektenvernichtungsmittel herstellende Unternehmen seines Vaters übernommen hat, heute keiner Fliege etwas zu Leide tun will. Hans-Dietrich Reckhaus steckt mittendrin in einer unternehmerischen Transformation, die deutschlandweit einzigartig sein dürfte. Aber von Anfang an.

Neuheit: Die Fruchtfliegen-Lebendfalle ist das erste Insektenrettungsprodukt der neuen Marke Dr. Reckhaus – und der Unternehmensgeschichte. - © Wolfgang Rudolf, Wolfgang Rudolf
Neuheit: Die Fruchtfliegen-Lebendfalle ist das erste Insektenrettungsprodukt der neuen Marke Dr. Reckhaus – und der Unternehmensgeschichte. | © Wolfgang Rudolf, Wolfgang Rudolf

„Es stand nie zur Frage, ob ich das Unternehmen übernehmen möchte oder nicht", sagt Reckhaus. Im Studium hatte er zwar eine „kritische Phase", wie er sie nennt. In der er kurz überlegte, ob er nicht doch lieber Literatur und Philosophie studieren soll. „Aber ich konnte nicht ausbrechen." Also absolvierte er an der Wirtschaftsuniversität St. Gallen ein betriebswirtschaftliches Studium, das er 1993 mit der Promotion zum Dr. oec. abschloss. „Die Sensibilität für ökologische Fragen war damals schon da", sagt er heute rückblickend. „Aber ich habe es einfach nicht geschafft, die Ökologie in den Betrieb zu integrieren."

Seit 25 Jahren leitet er den Familienbetrieb in zweiter Generation. Viele Jahre davon agierte er als „ganz normaler Unternehmer", der seine Produkte nicht infrage stellte. Unter der 1961 von seinem Vater ins Leben gerufenen Marke „recozit" lässt er Mottenpapier, Ameisenköderdosen, Fliegenfänger und Insektensprays herstellen. Auch für Handelshäuser, die sie dann unter ihrem Namen verkaufen. „Alles Produkte, mit denen sich die privaten Konsumenten im Haus vor Insekten schützen können." Wichtig ist Hans-Dietrich Reckhaus zwar schon lange, seine Produkte zeitgemäß auf den Markt zu bringen – also zum Teil insektizidfrei. Aber sie sind immer noch tödlich.

Was mit Fliegenfängern und -klatschen begann, endete 2011 in der Entwicklung einer neuartigen Fliegenfalle, die der Markt so noch nicht gesehen hatte. Auf Wunsch der Verbraucher erfand Hans-Dietrich Reckhaus eine Möglichkeit des „verdeckten Todes": eine Fliegenfalle fürs Fenster, der man nicht sofort ansieht, dass sie eine Fliegenfalle ist. Die aber schneller tötet als vergleichbare Konkurrenzprodukte. Eine Innovation, die er sich schützen ließ – das erste Patent in der Firmengeschichte.

Innovation für den Insektenschutz

Nun standen ihm als mittelständischen Unternehmer keine Werbemillionen zur Verfügung. Der Kunstfreund wandte sich deshalb an die beiden Schweizer Konzeptkünstler Frank und Patrik Riklin. Von ihnen wollte Reckhaus nur eine originelle, kreative Idee. Stattdessen sagten die Brüder ihm ins Gesicht, dass sein Produkt schlecht sei. „Aus ethischen Gründen können wir Produkte, die töten, nicht unterstützen." Er müsse Insekten retten. Und sie stellten die eine, entscheidende Frage, die fortan Reckhaus‘ ganzes Denken und Handeln auf den Kopf stellen sollte: „Wie viel Wert hat eine Fliege für dich?"

„Sprachlich und inhaltlich habe ich sie verstanden. Aber darüber hinaus war das für mich abstrakte Materie, die mit meinem Leben nichts zu tun hatte." Ohne die erhoffte Kreatividee trat der Unternehmer den Rückweg nach Bielefeld an. „Ich habe das Telefon und Radio ausgeschaltet – ich brauchte Ruhe. Ich war innerlich erschüttert", berichtet er. Zwei Nächte schlief der Unternehmer nicht. „Es hat in mir gearbeitet." Dann drang die Realität langsam zu ihm durch: „Meine Produkte haben Milliarden Insekten auf dem Gewissen." So rief er am dritten Morgen die Brüder Reklin an: „Wir realisieren!"

recozit gibt es so nicht mehr

Und zwar die Bielefelder Kunstaktion „Fliegen retten in Deppendorf", um das ambivalente Verhältnis zwischen Menschen und Insekten zu thematisieren. Mit den Deppendorfern diskutierten sie am 1. September 2012 über den Wert von Insekten. Und: „800 Einwohner haben 902 Fliegen gerettet." Diese zogen in einen eigens gebauten Rettungswagen ein. Eine aber – getauft auf den Namen Erika – durfte mit menschlicher Begleitung per Hubschrauber, Flugzeug und Limousine in den Wellnessurlaub in ein bayerisches Fünf-Sterne-Hotel reisen. „Es ging darum, die Fliege einmal wie einen Menschen zu behandeln."

Die mediale Aufmerksamkeit war enorm, es hagelte Kritik, viele vermuteten eine strategische Marketingaktion. Hans-Dietrich Reckhaus lernte, damit umzugehen. „Wenn man recht hat, prallt Kritik an einem ab", sagt er. „Es war ein gutes Gefühl, den Fliegen etwas zurückgeben zu können."

Es blieb nicht bei dieser Kunstaktion. „Meine Produkte töten, also muss ich etwas tun!" Eine Einstellung, mit der Hans-Dietrich Reckhaus ziemlich einmalig in der deutschen Unternehmerschaft sein dürfte. „Mich hat Konsequenz immer genährt. Ich übernehme gerne Verantwortung, bin gerne zuverlässig. Ein sturer Kopf mit einer Ethik und Haltung, für die ich kämpfe." Der Unternehmer warf alles in die Waagschale, trotzte Kritikern, leistete bei Mitarbeitern und Kunden Überzeugungsarbeit. Und integriert nun schon seit acht Jahren das Insektenretten in seine Unternehmensstrategie, die aufs Töten ausgerichtet ist.

Ein Transformationsprozess, der nicht von heute auf morgen abgeschlossen ist. Und währenddessen der Unternehmer erst einmal weiter seine Insektenvernichtungsmittel herstellen und verkaufen muss, auch aus der Verantwortung für seine Mitarbeiter heraus. „Wir müssen auf diesem Weg Kompromisse machen." Aber er hat umgedacht: „Ich will möglichst viel Sinnvolles leisten und damit Geld verdienen – nicht umgekehrt."

In großen Schritten verändert sich das Geschäftsmodell. Ebenfalls 2012 ist „Insect Respect" entstanden, ein Gütesiegel für einen respektvollen Umgang mit Insekten. Damit will Reckhaus die Reduktion des Marktes erreichen. „Die Verbraucher sollen weniger Insektenvernichtungsmittel kaufen", erklärt er. „Und wenn sie kaufen, dann am besten unsere insektizidfreien Produkte, die eine ökologische Kompensation in Form von insektenfreundlichen Ausgleichsflächen sicherstellen." Um das Insektensterben zu stoppen. Deshalb warnen auch plakative Hinweise, ähnlich wie die auf den Zigarettenschachteln: „Produkt tötet wertvolle Insekten". Zusätzliche Informationen auf und in den Verpackungen sensibilisieren und klären auf. „Wir machen unseren Kunden ein richtig schlechtes Gewissen."

Zur Transformation gehört auch die neue Marke „Dr. Reckhaus", unter der nur noch Rettungsprodukte auf den Markt kommen sollen. Eine Fruchtfliegen-Lebendfalle hat bereits den Anfang gemacht.

Nebenbei hat Hans-Dietrich-Reckhaus eine große Lobby für Insekten aufgebaut und veranstaltet regelmäßig den „Tag der Insekten". Aber warum brauchen die Sechsbeiner überhaupt eine Lobby? Zum einen liege es wahrscheinlich an ihrer Größe, antwortet Reckhaus. „Sie sind überall, aber die meisten von ihnen sehen wir gar nicht", sagt Reckhaus. „Wir bekommen nur die uns störenden Insekten mit. Unsere Insekten-Wahrnehmung ist eher negativ geprägt." Hinzu komme, dass wir Insekten weniger schätzten als andere Tiere: „Wir bewerten Tiere, das steht uns aber gar nicht zu", sagt Reckhaus und nennt die Biene als Beispiel. „Sie hat es bereits geschafft, in unserem Ansehen zu steigen." Dass aber die Fliegen die zweitgrößte Bestäubergruppe bilden, beachteten wir nicht. „Natürlich müssen wir uns mehr Wissen über Insekten aneignen. Aber auch unser Umgang mit der Natur muss sich ändern. Wir handeln zu egozentrisch."

Für Hans-Dietrich Reckhaus gibt es kein Zurück. „Ich bin sicher, dass ich mit dem, was ich tue, auf dem richtigen Weg bin." Kritik muss er sich nur noch selten stellen, immer mehr Menschen wollen seinen Weg mitgehen. „Ich bin heute im Geschäft, um das Insektensterben zu reduzieren." Sein Unternehmen, dessen Produkte immer noch zu 90 Prozent Insekten töten? „Das ist für mich ein Hebel. Ein Insektizidhersteller, der Insekten rettet? Das schafft mir die nötige Aufmerksamkeit für meine Botschaft."

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