SPD-Fraktionschef in NRW: Bürgergeld und Erbe sind beides leistungslose Bezüge

Herr Ott, wir stehen in NRW kurz vor Kommunalwahlen, und 2027 ist die nächste Landtagswahl. Die Landesregierung regiert gemütlich vor sich hin. Unser Eindruck ist aber, dass die SPD die Finger viel zu wenig in die Wunden der schwarz-grünen Koalition legt. Jochen Ott: Das tun wir schon sehr regelmäßig. Das wird öffentlich nur meist nicht so wahrgenommen, wie wir uns das wünschen. Wir müssen es lernen, als eine Partei, die Themen immer sehr differenziert diskutiert und dabei auf Interessenausgleich bedacht ist, deutlich und auch mal polarisierend zu sagen: Das sind die Punkte, für die wir stehen, und das ist mit uns nicht zu machen. Es wird in der Öffentlichkeit allerdings auch viel zu sehr über Nebensächlichkeiten wie gendergerechte Werbung diskutiert, statt über Wohnungsbau, Bildung, Schule und Sicherheit. Was meinen Sie damit? Na ja, wen interessiert es wirklich, wer und was auf einer Käse-Verpackung abgedruckt ist? Das sind doch alles Schwachsinns-Debatten, die uns von rechtspopulistischen Kreisen aufgedrückt werden und der heutigen Aufmerksamkeitsökonomie entsprechen. Hinzu kommt, dass sie das wahre Meinungsbild in der Gesellschaft oft überhaupt nicht abbilden. Nehmen Sie die Debatte um die Juristin Brosius-Gersdorf und deren Haltung zur Abtreibung. Ich wette, dass 80 Prozent der Deutschen ihr zustimmen und das gültige Recht auf Abtreibung für richtig halten. Das Gleiche gilt dafür, den Spitzensteuersatz zu erhöhen und die Erbschaftssteuer. Für beides gibt es eine breite Mehrheit, aber gleichzeitig lautes Geschrei dagegen. In diesem Dickicht müssen wir als SPD unser ureigenes Profil viel deutlicher machen und herausstellen, was wir wollen und was mit uns überhaupt nicht zu machen ist. In welchen Bereichen gilt das? In der Sozialstaatsdebatte zum Beispiel. Da werden wir als SPD gerade massiv unter Druck gesetzt. Und das können wir uns nicht bieten lassen. Im Gegenteil: Wir müssen deutlich machen, dass eine Reform des Sozialstaats nicht allein auf dem Rücken der Arbeitnehmer und nicht ohne Klassenkompromiss zu machen ist. Wie kann es sein, dass das Steueraufkommen seit den 1960er Jahren gleichgeblieben ist? Nur die, die viel verdienen, haben weniger Steuern bezahlt, und die, die wenig verdienen, haben mehr Steuern bezahlt. Die Wohlhabenden haben es geschafft, die Steuerlast für sich zu drehen. Gleichzeitig betreiben sie mit ihren ständigen Parolen gegen das Bürgergeld Klassenkampf von oben. Ich sag’ mal so: Bürgergeld und Erbschaften sind beides leistungslose Bezüge. Wir werden also einen Kompromiss finden müssen. Die Kernfrage ist, unter welchen sozioökonomischen Voraussetzungen leben die Menschen. Lesen Sie auch: Von überall dröhnen die Rufe nach Reformen Das klingt nach dem alten Aufstiegsversprechen der SPD. Das muss sie wieder neu auflegen? Ja. Und ohne eine Antwort auf die Gerechtigkeitsfragen unserer Zeit wird das nicht gehen. Steuern, Bildung, Wohnen, Gesundheit, Pflege, Kita – all das wird doch nicht gerechter, wenn man nur Konservativen oder Rechtspopulisten das Ruder überlässt. Wir reden dabei ja auch nicht nur über theoretische Debatten, sondern über den ganz praktischen Lebensalltag von Millionen von Menschen. Dazu gehört zum Beispiel die Familienpolitik. Wenn Sie morgens als Mutter schon die Nachricht bekommen &bdquo;heute keine Kita“, dann bricht für Sie doch das Chaos aus, weil Sie alles umorganisieren müssen. Dasselbe gilt für den Pflegedienst, wenn die Nachricht kommt: &bdquo;Heute wird der Opa nicht versorgt.“ Dann haben die Menschen ein Problem. Wenn die SPD diese Probleme beseitigt, dann kommt sie auch wieder vor. Das ist die Problemanalyse, aber wie sieht die Antwort der SPD aus? Family first. Wir wollen die Eltern von Kita-Beiträgen entlasten, wir wollen den Kindern ein kostenloses Mittagessen ermöglichen. Allein das Mittagessen kostet die Familien 1.000 Euro im Jahr – pro Kind. So viel Entlastung bekommt keine Steuererleichterung hin. Dazu kommt die Lernmittelfreiheit in der Schule. Dafür machen wir uns stark. Was Eltern für Bücher, Hefte und digitale Geräte inzwischen bezahlen müssen, ist Wahnsinn. Wir waren in NRW mal Vorreiter bei der Lernmittelfreiheit. Da wollen wir wieder hin. Weiteres Beispiel: Wir wollen, dass alle Kinder mit viereinhalb Jahren getestet werden – in Sprache und Entwicklung. Kinder, die da nicht richtig fit sind, bekommen ein Chancenjahr, damit sie bei der Einschulung bessere Startvoraussetzungen haben. Aktuell können 30 Prozent der Kinder am Ende des vierten Schuljahres nicht richtig lesen. Und viele sind am Ende der neunten, zehnten Klasse nicht in der Lage, eine Ausbildung zu beginnen. Das ist das komplette Scheitern des Bildungssystems in NRW. Als SPD trauen wir uns da ran. Auch interessant: Schulanfang in NRW – das ändert sich für Schüler, Lehrkräfte und Eltern Und wie wollen Sie das finanzieren? Wir haben vorhin ja schon über Steuergerechtigkeit gesprochen. Angesichts der Vermögensverhältnisse im Land müssen wir die Erbschaftssteuer erhöhen. Gerne auch mit einem hohen Freibetrag – keiner will an das Einfamilienhaus von Oma und Opa ran. Aber zurzeit werden Jahr für Jahr Vermögenswerte vererbt, da wird dem normalen Arbeitnehmer doch nur schwindelig. Das sind schon fast dynastische Zustände, verfestigt soziale Strukturen und steht auch einem Aufstiegsversprechen im Weg. Wie schon gesagt: Nicht nur das Bürgergeld, auch Erbschaften sind leistungsloses Einkommen. Man erbt, weil die Vorfahren gearbeitet haben, nicht man selbst. Damit würde ich das finanzieren. Familien laufen im Hamsterrad. Die müssen wir entlasten. Es reicht nicht, nur so zu tun, als seien Kinder wichtig, wie es der Ministerpräsident macht. Das muss man in der täglichen Politik umsetzen. Funktioniert das auch in sozialen Brennpunkten wie Gelsenkirchen? Sicherheit und Migration sind da das Thema. Auch innere Sicherheit ist ein soziales Thema. Vor allem für Familien. Die SPD muss und wird immer Recht und Ordnung durchsetzen. Verwahrlosung des öffentlichen Raums spielt da natürlich mit rein. Hier müssen alle Ebenen viel konsequenter zur Sache gehen – und auch gemeinschaftlich enger zusammenarbeiten. Wer am Boden liegt, braucht unsere Hilfe. Er muss sie allerdings dann auch annehmen. Und was das Thema Migration betrifft: An mehr Ordnung im System wird auf allen Ebenen gearbeitet. Grundsätzlich muss jedoch allen klar sein, dass wir Einwanderung zum Beispiel in Gesundheit und Pflege dringend brauchen. Sollte die AfD ihre Remigrationspläne einmal umsetzen können, wird es in unseren Krankenhäusern immer noch viele Patienten geben, aber immer weniger ärztliches und Pflegepersonal. Aber je mehr man sich mit der AfD beschäftigt, umso mehr gewinnt sie an Zulauf. Deshalb muss man den Menschen klarmachen, was es bedeutet, wenn sie AfD wählen. Und wie soll das gehen? Auch da müssen wir deutlicher werden. Wie die Ganztagsbetreuung der AfD aussieht? Ganz einfach: Mama macht zu Hause das Mittagessen. Wer das will, kann das übrigens schon heute so handhaben. Wer das aber nicht will, für die oder den könnte es dann sehr schwierig werden. Da sind wir wieder beim Anfang unseres Gesprächs: pointierter und auch mal polarisierender sagen, wofür man steht und wofür man nicht steht, was man will und was man nicht will. Das ist zumindest eine unserer kommunikativen Aufgaben.

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