Rolf Mützenich in Paderborn: „Möchte, dass der Kanzler bei den Menschen überzeugt“

Herr Mützenich, Sie stammen aus einer Arbeiterfamilie. Seit mehr als 40 Jahren arbeiten Sie für und mit der SPD. Sie kennen das Herz und die DNA der Partei. Wie geht es denn der alten Tante SPD? Rolf Mützenich: Es sind herausfordernde Zeiten. Genauso wie für viele Menschen, die sich um ihren Arbeitsplatz, ihre Gesundheit oder um andere Menschen sorgen. Natürlich sind schlechte Umfrageergebnisse nicht schön. Aber viele Menschen nehmen jetzt erst wahr, dass am 23. Februar Bundestagswahl ist und dass es dabei um viel geht. Wir haben noch gute Chancen, um aufzuholen. Sie sind nach Paderborn gekommen, um Betriebsräte zu treffen und um über den Industrie- und Wirtschaftsstandort zu sprechen. Was kann die SPD von Paderborn lernen? Es ist nicht das erste Gespräch mit Betriebsräten in diesen Wochen. Wir sind seit drei Jahren, mit dem Ende der Pandemie und aufgrund der Veränderungen der Energieversorgung durch den Überfall Russlands auf die Ukraine, sehr eng im Austausch mit den Gewerkschaften. Trotz schlechter Umfragewerte: Fraktionschef Mützenich glaubt an Aufholjagd der SPD Auch in Paderborn geht es um die Sicherung von Arbeitsplätzen, darum, was der Staat beispielsweise für günstigere Energiepreise tun kann. Es geht um die Sicherung der Kurzarbeit und die verstärkte Möglichkeit zur Qualifizierung. In 34 Tagen ist die vorgezogene Bundestagswahl. Die SPD liegt in Umfragen aktuell bei etwa 15 Prozent. SPD-Kanzler Olaf Scholz will trotzdem weiterregieren. Das 60 Seiten starke Wahlprogramm nennt die SPD mutig &bdquo;Regierungsprogramm“. Ist nach dem Ampel-Scheitern ein Weitermachen realistisch? Es gibt kein &bdquo;einfach weitermachen“. Aber natürlich wollen wir wieder regieren und auch den Bundeskanzler stellen. Weil wir zum Beispiel erreichen wollen, dass über 90 Prozent der Bundesbürger steuerlich bessergestellt werden, dafür Superreiche mehr zum Steueraufkommen beitragen. Ich bin sicher, dass die SPD damit überzeugen kann. Sie sind Vorsitzender der SPD-Bundestagsfraktion. Sind dort wirklich alle von Olaf Scholz überzeugt? Oder springt er in die Bresche und Boris Pistorius läuft sich schon mal warm fürs nächste Mal? Nein. Ich bin fest davon überzeugt, dass sich alle hinter Olaf Scholz versammelt haben. Dass es in einer Volkspartei unterschiedliche Vorstellungen über die Kandidatinnen und Kandidaten gibt, das ist so. Auch Bundestagsabgeordnete haben in ihren Wahlkreisen schon mal Gegenkandidaten. Aber der Bundesparteitag hat gezeigt, dass Person und Programm zueinanderpassen. Schauen wir noch mal auf Paderborn. Vor einer Woche hat hier FDP-Chef Christian Lindner Wahlkampf gemacht. Über das &bdquo;D Day“-Paper hat er nichts gesagt. Hand auf Herz: Hätte die selbst ernannte Fortschrittskoalition ohne Kanzlermachtwort wirklich bis September 2025 gehalten? Nein, wie wir heute wissen. Die FDP hat den Bruch gesucht und lange Zeit den falschen Eindruck erweckt, sie stehe zur Koalition. Was mich zudem belastet, ist die Wortwahl für einen schnöden Regierungsbruch. In der Normandie sind Menschen mit 17, 18, 19 Jahren im &bdquo;D Day“ gestorben, weil sie Europa befreien wollten. Bürgergeld: Missbrauch beim Bürgergeld nicht durchgehen lassen Wer das weiß, nutzt diesen Begriff, um vor der Verantwortung zu fliehen. Auch der Begriff &bdquo;Torpedo“ wurde von der FDP in diesem Papier benutzt. Die Schiffe, auf denen mein Vater, Jahrgang 1914, Dienst tat, wurden im Krieg dreimal torpediert. So was darf man nicht in der Politik effekthaschend instrumentalisieren. Christian Lindner hat in Paderborn vor einer neuen Groko gewarnt und damit für die FDP geworben. Auch die Linke hat bei ihrem Parteitag indirekt zu taktischem Wählen aufgerufen. Könnte die SPD an den Wahlurnen weiter durchrutschen? Ich möchte nicht über taktische Konstellationen reden. Das scheint eine Marotte der FDP zu sein. Sie hat bisher immer Wahlkämpfe in Koalitionsarithmetik geführt. Ich möchte, dass der Bundeskanzler bei den Menschen überzeugt, durch seine Besonnenheit und seine Regierungserfahrung. Alles andere wird sich nach dem 23. Februar ergeben. Nach dem Überfall Russlands auf die Ukraine im Februar 2022 machte der Begriff Zeitenwende neugierig. Dann waren Vorhaben wie das Heizungsgesetz schnell auf dem falschen Gleis – und die Koalition im Krisenmodus. Hat die Ampel am Ende zu viel gewollt und zu wenig geschafft? Wir haben viel gewollt, aber auch viel geschafft. Wir haben etwa Arbeitsplätze und Unternehmen gerettet. Andererseits sehen wir heute die Krise in der Autoindustrie – auch das ist Zeitenwende – und einen Kanzlerkandidaten Merz, der den grünen Stahl infrage stellt. In den nächsten 20 Jahren müssen wir aber klimaschonend produzieren und genügend Produkte auf dem Markt haben, die konkurrenzfähig sind. Über das Cannabisgesetz und das Bürgergeld ist viel diskutiert worden. Die Bertelsmann-Stiftung verweist dagegen auf 453 Einzelversprechungen im Ampel-Koalitionsvertrag. Zwei Drittel seien bis September 2023 umgesetzt worden. Ich will keine Dankbarkeit, aber eine gewisse Anerkennung. Im Gegensatz zu uns hat sich Frau Merkel beim Regieren sehr stark zurückgehalten. Wir haben bleibende Werte geschaffen, beispielsweise die Erhöhung des Kindergeldes auf jetzt 255 Euro. Und ab dem ersten Kind wird das gleiche Kindergeld gezahlt. Das ist mir sehr wichtig. Oder die Angleichung der Renten in Ost und West. Die Erhöhung des Mindestlohns. Ich bedauere, dass wir uns als Koalition zu schlecht dargestellt haben. Denn ja, der Laden war oft zerstritten. Stichwort Bürgergeld: Jetzt betont die SPD im Wahlprogramm, dass es kein bedingungsloses Grundeinkommen ist. Jetzt will sie die Migration regeln. Kann man sagen, die SPD hat verstanden? Wir haben es auch vorher schon verstanden. Wenn die Koalition gehalten hätte, dann hätten wir das Bürgergeld verändert, insbesondere bei Totalverweigerern. Wir hätten stärker sanktioniert, wenn Bezieher nebenher einer Tätigkeit nachgegangen wären. Im Bürgergeld sind aber auch arme Kinder, alleinerziehende Frauen, Aufstocker mit zu geringem Einkommen. Dafür haben wir das Bürgergeld geschaffen und diese Menschen haben ein Recht auf Unterstützung. Das Wahlprogramm endet mit dem Punkt: &bdquo;Wir kämpfen für dich“. Die SPD war früher die Partei der Arbeiter und Lehrer. Für wen macht sie jetzt Politik? Weiter für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer. Wir hätten gerne in dieser Koalition das Tariftreuegesetz auf den Weg gebracht. Da hat sich aber die FDP aus dem Staub gemacht. Andererseits steht im aktuellen Wahlprogramm auch, wer in Deutschland investiert, der erhält einen Steuernachlass von 10 Prozent. Das ist gut für Unternehmen und Beschäftigte. Und das ist gegenfinanziert? Wir wollen, dass sich Vermögende und Superreiche stärker am Steueraufkommen beteiligen. Wir werden zu einer stärkeren Steuergerechtigkeit beitragen müssen. Und wir wollen im Gegenzug zur Union nicht auf den Soli verzichten – das Thema liegt ja gerade beim Bundesverfassungsgericht. Unser Wahlprogramm ist das einzige, das seriös gegenfinanziert ist. Schon beim Unionsprogramm klafft eine Deckungslücke von 100 Milliarden Euro. Die SPD spricht jetzt auch von &bdquo;Mehr Netto vom Brutto“. Ich finde wichtig, dass wir den Lebensstandard gerade angesichts der Inflation sichern, dass die staatlichen Strukturen erhalten bleiben. Wir sehen Kommunen, die das aufgrund der Altschulden nicht mehr können. Wir wollen aber auch die Infrastruktur erhalten und modernisieren. Dafür sind hohe Investitionen wichtig. Wir wollen die Kreditaufnahme reformieren. Da, wo Investitionen an der Schuldenbremse scheitern, müssen wir einen neuen Pfad gehen, der mehr Investitionen ermöglicht. Und es soll laut Wahlprogramm einen Deutschlandfonds mit 100 Milliarden Euro geben? In den Deutschlandfonds wollen wir staatliches und privates Kapital überführen. Wir wollen, dass das private Kapital aus Pensionsfonds und weiteren Anlagen in den Wirtschaftskreislauf fließt. Man wird eine aktivere Finanzpolitik betreiben müssen. Blicken wir auf die Weltbühne: Donald Trump kehrt dorthin zurück. Besorgt Sie das? Wir müssen mit Achtung darauf schauen, dass diejenigen, die die Wahl nicht gewonnen haben, die Niederlage akzeptieren. Umgekehrt weiß ich nicht, was der heutige Tag bedeutet hätte, hätten die Demokraten mit Kamala Harris gewonnen. Herr Trump ist jemand, der mit seiner politischen Philosophie die Gesellschaft und die Welt spaltet. Das wird sehr schwierig, vor allem, wenn er viele seiner Ankündigungen wahr macht. Strafzölle von Trump: Mützenich warnt vor Job-Verlusten bei Strafzöllen Die Frage von Zöllen spielt eine Rolle, die Begrenzung der Einwanderung in die USA. Wir werden mit so einem Präsidenten leben müssen. Europa muss aber stärker zusammenrücken. Strafzölle in den USA könnten den Verlust von Arbeitsplätzen in Deutschland bedeuten. Definitiv. Einige Zahlen sagen, dass mehrere 100.000 Arbeitsplätze auch in Deutschland gefährdet wären. Trump hat auch den Begriff &bdquo;Fake News“ geprägt. Wie sehr beeinflusst so etwas das politische Handeln in Deutschland? 2025 wird ein herausforderndes Jahr werden. Das hat was mit Desinformation und Radikalität zu tun. Deshalb hoffe ich, dass die Brandmauer gegenüber der AfD hält. Das nehme ich den meisten in der Union übrigens ab. Demokratinnen und Demokraten müssen untereinander koalitionsfähig sein, und die SPD hat in ihrer Geschichte gezeigt, dass sie zur Verantwortung steht. Aber dafür brauchen wir auch die Bürgerinnen und Bürger. Migration ist aktuell ein großes Thema für viele Bürger. Im Klinikum Magdeburg haben viele um die Opfer des Attentats gekämpft, darunter Ärzte und Pflegekräfte, die aus anderen Ländern nach Deutschland gekommen sind. Ohne die hätten es viele Verletzte nicht geschafft. Deshalb ist es wichtig, dass man nicht pauschal urteilt. Wir haben die Verteilung von Flüchtlingen in Europa neu geregelt, wie die sinkenden Zahlen zeigen, wirkt das schon. SPD zu Trump: Was die Rückkehr für Deutschland bedeutet Die Koalition hat das Staatsangehörigkeitsrecht eingeführt, das Menschen dazu verhilft, die seit längerer Zeit in Deutschland leben und an ihrer Geburtsheimat hängen, schneller zur doppelten Staatsbürgerschaft zu kommen. Ich denke, wir haben einiges geleistet in der Migrationspolitik. Von der AfD fühlen sich viele aber besser abgeholt. Ich rate dazu, genau hinzuschauen. Wenn die AfD über Kinder und Jugendliche mit Handicap oder Behinderung sagt, die haben keinen Platz in öffentlichen Schulen, dann ist das nicht nur eine Diskriminierung. Was ist dann mit den Älteren, den Kranken oder denen, die so leben möchten, wie sie fühlen? Die AfD ist eine große Gefahr für sehr viele Menschen. Bedrohung kostet Kraft. Deshalb die Frage: Macht Politik noch Spaß? Ich bin nicht in die Politik gegangen, um Spaß zu haben. Spaß habe ich, wenn ich privat bin. Es ist herausfordernd, manchmal ernüchternd, manchmal erhebend. Aber es ist wichtig, dass viele Menschen das demokratische Gemeinwesen mit ihren Gedanken und ihrer Bereitschaft zum Kompromiss füllen.

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