Jens Spahn: "Der Kanzler bricht seine Versprechen"

Herr Spahn, gerade hat sich der russische Angriff auf die Ukraine zum ersten Mal gejährt, am heutigen Montag (27. Februar) jährt sich die Regierungserklärung von Bundeskanzler Olaf Scholz zur "Zeitenwende". Was ist aus dieser Zeitenwende geworden? Jens Spahn: Ich bin einer der Unionsabgeordneten gewesen, die dem Kanzler im Bundestag sogar stehend applaudiert haben. Die Rede war richtig. Ich dachte an dem Tag: Wow, das kann diese Kanzlerschaft prägen. Leider hat die Bundesregierung die Flughöhe schon am Folgetag nicht mehr gehalten. Der Kanzler bricht seine Versprechen. Woran machen Sie das fest? Von den 100 Milliarden Euro Sondervermögen für die Bundeswehr wurde bislang so gut wie nichts verplant, selbst dringend notwendige Munition wurde nicht bestellt. Auch bei Energiefragen hakt es an allen Ecken und Enden. Wir streiten in Deutschland und Europa monatelang über den Weiterbetrieb dreier Kernkraftwerke. Die Ampel-Koalition steuert dieses Industrieland fahrlässig in eine Energiemangellage. Mir fehlt die politische Führung – national wie international. Der Kanzler hat die USA dazu gebracht, der Ukraine Kampfpanzer zuzusagen. Er hat China dazu gebracht, sich gegen den Einsatz von Atomwaffen auszusprechen. Ist das keine Führung? Glaubt denn wirklich jemand, dass die Amerikaner vergessen werden, wie man versucht hat, sie zu erpressen? Sie haben sich von Scholz erpresst gefühlt. Das ist eine Stilfrage und dürfte dem Bundeskanzler noch auf die Füße fallen. Einige haben die Zögerlichkeit des Kanzlers als politischen Coup interpretiert. Dass nun 141 UN-Staaten Russland zum Rückzug aus der Ukraine aufgefordert haben, wird auch Deutschland zugeschrieben. 141 Staaten haben sich für die Stärke des Rechts und gegen das Recht des Stärkeren ausgesprochen. Von einer Führungsnation in Europa kann man wohl erwarten, dafür zu werben. Wird Deutschland dem Anspruch also doch gerecht? Zu einer Führungsrolle gehört schon etwas mehr. Es geht darum, voranzugehen. Nur das Erwartbare zu tun, ist keine Führung. Und ja, es geht auch um Tempo. Meine Überzeugung ist, dass mehr und schnellere Waffenlieferungen für die tapferen Ukrainer den russischen Angriffskrieg schneller beenden, nicht andersherum. So bringt man Putin zur Einsicht? Es ist das Ziel, durch Wirtschaftssanktionen und militärische Unterstützung der Ukraine das russische Regime und Wladimir Putin zu der Erkenntnis zu zwingen, dass ein Beenden dieses Krieges für Russland besser ist. Wenn die westlichen Industriestaaten wirklich wollten, würden sie bei der Munitionsproduktion die russische Kriegswirtschaft sicher schlagen. Und wieder fehlt deutsche und europäische Führung in dieser Frage. Corona-Pandemie, Krieg in Europa, Inflation, Energiekrise – als Gesundheitsminister haben Sie diese tiefe Zäsur mitgeprägt. Was spüren Sie heute davon? Es gibt Menschen, die mir für unsere Pandemiepolitik danken. Dafür, dass wir gut durch diese schwere Zeit gekommen sind. Es gibt auch jene, die verbittert und hasserfüllt sind. Es war eine harte Zeit. Manche behaupten nun, es sei alles übertrieben gewesen, Corona wäre gar nicht so schlimm. Was sie vergessen: Die Pandemie ist in Deutschland vorbei, weil wir zügig weite Teile der Bevölkerung impfen konnten. Es wird versucht, den Lauf der Dinge umzudeuten. Das finde ich hochproblematisch. CDU-Chef Friedrich Merz hat Migrantenkinder nach der Silvestergewalt "kleine Paschas" genannt. Der CDU-Landesvorsitzende und nordrhein-westfälische Ministerpräsident Hendrik Wüst sagt, ihn interessiere weder Herkunft oder Hautfarbe eines Kindes noch die Religion der Eltern. Es seien "unsere Kinder". Wo stehen Sie? Es ist beides richtig. Es sind unsere Kinder. Kinder, die hier groß werden und bestenfalls unsere – und damit vor allem ihre – Zukunft mitgestalten. Gleichzeitig ist richtig, dass wir bei einem Teil der Gesellschaft ein Problem mit toxischer Männlichkeit haben. Einigen wird von Kindesbeinen an vermittelt, dass Männer mehr wert sind als Frauen. Wen meinen Sie damit? Ich meine, dass Erziehung und Kultur hier eine Rolle spielen. Kinder werden ja nicht als Machos geboren, sondern zu solchen erzogen. Auf Basis einer islamischen kulturell-religiösen Prägung. Deswegen geht der linke Rassismus-Vorwurf auch am Thema vorbei. Es geht um Kultur, nicht um Ethnie. Erleben Sie diese toxische Männlichkeit, von der Sie sprechen, auch in Ihrem Wahlkreis im Münsterland? Es gibt im ganzen Land diese Jungs, die keinen Respekt vor dem Staat und auch keinen vor Frauen haben. Wenn wir nicht darüber sprechen, lösen wir das Problem nicht. Sagen, was ist. Gerade weil sie alle unsere Kinder sind. Wird Friedrich Merz Kanzlerkandidat der Union? Wir wollen wieder regieren. Auch, weil das besser ist für Deutschland. Friedrich Merz ist unser von den Mitgliedern mit großer Mehrheit gewählter Vorsitzender. Wenn er es will, dann wird er unser Kanzlerkandidat.

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