„Moralischer Bellizismus leitet keine kluge Politik“

Herr Kruse, seit fast einem Jahr tobt der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine. Manche meinen, so etwas wie Kriegsbegeisterung auszumachen in Europa wie 1914. Gab es diese 1914 eigentlich, wie allgemein angenommen wird? Wolfgang Kruse: Die Kriegsbegeisterung, die 1914 geherrscht haben soll, war eher ein tradierter Mythos denn ein wirklich untersuchter Gegenstand der Geschichtswissenschaft. Deshalb herrscht bis heute das Bild vor, dass die Menschen in Deutschland und anderen Ländern Europas den Krieg geradezu herbeigesehnt, jubelnd begrüßt und sich voller Begeisterung in ihn hineingestürzt hätten. Dem war aber nicht so, wie kritische, auf Quellen gestützte Untersuchungen gezeigt haben. Wie war es stattdessen? Insgesamt gab es eine breite Palette unterschiedlicher Stimmungen. Vor allem in der Arbeiterschaft dominierte traditionell eine große Ablehnung des Krieges. Das spiegeln die von der SPD organisierten Antikriegsdemonstrationen noch Ende Juli 1914 deutlich wider. Aber auch in der Landbevölkerung, unter den Soldaten, unter den Frauen herrschten angesichts des Krieges eher Sorge, Angst und Verzweiflung denn Kriegseuphorie. Diese gab es auch, aber sie hatte deutliche Grenzen. Wer ließ sich denn eher für den Krieg begeistern? Kriegsbegeisterte wie auch Kriegsgegner gab es in allen Schichten, aber die bürgerlichen und bildungsbürgerlichen Schichten waren eindeutig kriegsaffiner als die unter politischen und sozialen Bedrängnissen leidende Arbeiterschaft. Unter ihnen fanden sich auch viele Schriftsteller wie zum Beispiel Thomas Mann, Professoren und andere Akademiker. Nicht zuletzt haben auch zahlreiche Journalisten den &bdquo;Geist von 1914“ beschworen und mit dafür gesorgt, dass sich der Mythos von der allgemeinen Kriegsbegeisterung verfestigen konnte. Ein Pfarrer sprach damals in seinen Beobachtungen gar von einer &bdquo;akademischen Kriegsbegeisterung“. Übertreibt er? In der Tendenz stimmt seine Beobachtung. Das wilhelminische Bildungsbürgertum war ausgesprochen nationalistisch und militaristisch geprägt, und der Kriegsbeginn wurde von vielen als nationales Einheits- und Erweckungserlebnis verherrlicht, das in den &bdquo;Ideen von 1914“ ideologisiert wurde. Springen wir ins Heute. Es fällt auf, dass sich zahlreiche Autoren, Künstler, Akademiker und Geistesgrößen sehr schnell und klar für die Lieferung schwerer Waffen an die Ukraine ausgesprochen haben. Ist das zu vergleichen mit der größeren Kriegsbereitschaft dieser Kreise auch im Jahr 1914? Mit historischen Analogiebildungen bin ich vorsichtig, aber es ist nicht zu übersehen, dass auch heute wieder eher bildungsbürgerliche Schichten den Krieg moralisieren, ideologisieren und eine bellizistische, teilweise agitatorische Tendenz an den Tag legen. Breitere Bevölkerungsschichten lassen demgegenüber eine größere Zurückhaltung erkennen, etwa in der Frage der Lieferung von schwerem Kriegsgerät. Doch abgesehen davon, dass Deutschland 1914 einen Angriffskrieg geführt hat, gibt es noch einen wichtigen Unterschied: Die &bdquo;Kulturkrieger“ von 1914 brachten die deutsche Kultur gegen 1789, gegen die Werte der westlichen Zivilisation und Demokratie in Stellung. Heute geht es umgekehrt darum, westliche Werte gegen russische Aggression zu verteidigen. Das ist politisch ein Fortschritt, aber in der vorbehaltlosen Identifikation mit einer vermeintlich für uns kämpfenden Ukraine liegt auch eine große Gefahr. Welche? Dass der so idealisierte Krieg durch das einseitige Setzen auf militärische Unterstützung immer weiter eskalieren könnte, Deutschland und der Westen immer tiefer in den Krieg hineinrutschen und so letztendlich zu Kriegsparteien werden könnten. Unseren heutigen &bdquo;Kulturkriegern“ werfe ich vor, dass sie zu unkritisch über diese Gefahr hinwegsehen und sich bis hin zu unserer Außenministerin zu sehr Positionen der Ukraine zu eigen machen, statt eigenständige politische Perspektiven zu entwickeln. So halte ich es vor allem für falsch, dass wir die Zuspitzung auf einen militärischen Siegfrieden zunehmend übernehmen, statt auf einen Verhandlungsfrieden hinzuwirken. Weil Sie befürchten, dass wir wie 1914, als die Diplomatie versagte, in einen weiteren Weltkrieg schlittern könnten? Für 1914 ist die &bdquo;Schlitterthese“ fragwürdig, und heute ist eher der Verzicht auf diplomatische Lösungen zu befürchten. Weltkrieg ist ein großes Wort, zumal zwischen hochgerüsteten Atommächten, aber wir wissen nicht, zu welchen Schritten Putin bereit ist. Auch die Ukraine hat sich in einen hasserfüllten Bellizismus hineingesteigert und schwadroniert von einem Dritten Weltkrieg. Bei aller Berechtigung ihres von uns unterstützten Abwehrkampfes kann die Eskalationsspirale nur durch Verhandlungen gestoppt werden. Russland verweigert sich doch selbst jeder Diplomatie und greift kurz vor dem Jahrestag des Kriegsbeginns massiver an denn je. Wie soll die Ukraine da auf Diplomatie setzen? Ich sehe vor allem die Vereinten Nationen in der Pflicht, einen Ausgleich vorzubereiten und dabei sowohl Russland als auch die USA einzubeziehen. Die Konflikte sind älter als dieser Krieg, und der kürzlich von Henry Kissinger vorgeschlagene Friedensplan scheint mir eine mögliche Grundlage dafür zu bieten. Und die Ukraine als überfallenes Land bleibt außen vor? Nein, die Ukraine ist ein souveräner Staat, aber wir sind nicht mit ihr identisch. Und politisch müssen wir wegkommen von einem rein moralisierenden Blick. Wer Kompromisse ausschließt, läuft tatsächlich Gefahr, den Krieg zu verlängern und auszuweiten. Wie erklären Sie sich, dass die größte Zustimmung zur Lieferung von schweren Kampfpanzern, nämlich 75 Prozent, unter den Anhängern der Grünen zu finden ist, die ja eher aus einer deutlich pazifistischen Tradition kommen? Das ist in der Tat erstaunlich und für mich auch erschreckend. Es ist aber nur im Gesamtzusammenhang erklärbar. Unter dem Eindruck des russischen Angriffskrieges hat die lange eher kriegskritisch orientierte deutsche Gesellschaft insgesamt einen Schwenk vollzogen, der bei den Grünen aufgrund ihrer ausgeprägten Orientierung an Idealen und Menschenrechten besonders stark ausgeschlagen ist. Ich bezweifele allerdings, dass ein moralisch empörter Bellizismus kluge Politik anleiten kann. Die bürgerliche Presse verhielt sich 1914 &bdquo;durchweg kriegstreiberisch“, haben Sie einmal geschrieben. Wie sehen Sie die Rolle der Medien heute? Ich beobachte eine deutliche Tendenz zu einer einseitigen, bellizistischen Berichterstattung und Kommentierung. Besonders auffällig ist das in den Talkshows, in denen Kritiker von immer mehr Waffenlieferungen stets in der Minderheit sind und als Putinversteher oder &bdquo;Lumpenpazifisten“ abgestempelt werden. Wenn dem so ist, wie erklären Sie sich das? Getragen ist diese Haltung sicherlich von dem Willen, der leidenden Ukraine beizustehen. Aber eine demokratische Öffentlichkeit kann nur funktionieren, wenn die Akteure sich nicht nur als Agitatoren sehen und für kontroverse Meinungen und das Ringen um rationale Lösungswege offen bleiben. Sonst hat unsere politische Kultur schon verloren.

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