Tatwaffe Messer – ein Gewaltphänomen wirft Fragen auf

Bielefeld. Es genügen Meldungen der jüngsten Zeit, um den Eindruck zu gewinnen, dass in Nordrhein-Westfalen immer häufiger Messer gezogen werden: In der Düsseldorfer Altstadt habe sich die Messergewalt "hochgeschaukelt", schreibt eine Lokalzeitung. In den Nachrichtenagenturen liest man von sichergestellten Messern in Fußgängerzonen und an Hauptbahnhöfen. Das Landeskriminalamt präsentiert ein Lagebild, wonach die Polizei mehrfach mit Stichwaffen angegriffen worden ist. Der Konfliktforscher Andreas Zick von der Universität Bielefeld hat nun zu einer umsichtigen Einordnung geraten. Hinter dem Gefühl, dass Messerattacken sogar bundesweit zunehmen, liege nur ein "vermuteter Trend" ohne faktische Grundlage. Die Gewerkschaft der Polizei (GdP) sagt, sie habe das Themenfeld in NRW überhaupt erst aufgemacht. "Messerattacken können sofort lebensgefährlich sein", begründet der GdP-Vorsitzende Michael Mertens. "Immer mehr junge Männer finden es hipp, Messer bei sich zu tragen – und ja", sagt Mertens angesichts der gefühlten Wahrheiten um das Gewaltphänomen, "unter ihnen gibt es auch Männer mit Migrationshintergrund, aber sicher nicht nur." Über Messerkriminalität gibt es in Deutschland bislang wenige Forschungsergebnisse. "Messergewalt wurde als alltägliches Gewaltphänomen gesehen", erklärt der Direktor der Kriminologischen Zentralstelle in Wiesbaden, Martin Rettenberger. Die Länder erheben Zahlen zur Messerkriminalität überwiegend erst seit zwei Jahren. In der aktuellen Polizeilichen Kriminalstatistik (PKS) des Landes Nordrhein-Westfalen steht, dass 2021 in 4.397 Fällen ein Messer als Tatmittel eingesetzt worden sei – rund sechs Prozent weniger als im Vorjahr. Ein Institut erkundigte sich nach dem Mitführen von Messern Rettenberger findet solche kurzfristigen Vergleichszahlen bedingt aussagekräftig. Aufschlussreicher sei dagegen, dass der Statistik zufolge nur jede vierte dieser Straftaten auf Straßen oder Plätzen geschah. "Messer werden häufig in sozialen Nahräumen eingesetzt", sagt der Kriminologe. "Man spricht dabei allgemein von häuslicher Gewalt." Rettenberger gehört zu den Autoren einer Studie über Ausmaß und Entwicklung der Messerkriminalität in Deutschland. Einen signifikanten Anstieg haben die Forscher auf Grundlage von rheinland-pfälzischen Daten zwischen 2013 und 2018 nicht festgestellt – "obwohl der Diskurs seit dieser Zeit von der Frage geprägt ist, ob die Zuwanderung von Asylsuchenden einen Einfluss auf die Entwicklung der Kriminalitätszahlen und insbesondere der Messergewalt hatte", sagt Rettenberger. Er erinnert an stigmatisierende Begriffe wie "Messermänner", gebraucht von der AfD-Fraktionsvorsitzenden Alice Weidel. Das Kriminologische Forschungsinstitut Niedersachsen (KFN) fragte Jugendliche einmal nach dem Mitführen von Messern. Die Studie ergab, dass bei knapp der Hälfte aller Körperverletzungsdelikte mit Waffen Messer zum Einsatz kamen. Trugen 2013 rund 17 Prozent der interviewten Schülerinnen und Schüler zumindest selten ein Messer bei sich, gab dies 2017 jeder und jede fünfte Befragte an. Zu der Tätergruppe gehören fast ausschließlich Männer Zu den Gründen zählt Kriminologe Rettenberger zum einen möglichen Selbstschutz. Zum anderen sieht er "eine Orientierung an gewaltlegitimierendem Männlichkeitsgehabe wie Aggressivität, Wehrhaftigkeit oder Gruppenzugehörigkeit". Auch illegaler Drogenkonsum könne dazu führen, in Konflikten ein Messer zu ziehen und Menschen anzugreifen. Bei dem in der Studie geprüften Gewaltproblem bestand die Tätergruppe zu 92 Prozent aus Männern. Die Sprache der weitgehend völkisch gesinnten AfD habe den Diskurs über das Gewaltphänomen geprägt – und Messerkriminalität gleichzeitig mit geflüchteten Menschen in Verbindung gebracht. "So entstand der Eindruck, als gebe es kaum ein größeres Problem", sagt Rettenberger. In der Studie hat er auch die Staatsangehörigkeit der rechtskräftig verurteilten Menschen überprüft. Innerhalb der gesamten schweren Gewalttätergruppe hatten demnach rund 69 Prozent die deutsche Staatsangehörigkeit. Zum Vergleichsjahr 2013 lag der Anteil bei rund 71 Prozent. "In der Subgruppe der Messerkriminalität lag der Anteil der Personen mit deutscher Staatsangehörigkeit bei 63,6 Prozent", sagt Rettenberger, "im Jahr 2013 bei 74,1 Prozent – signifikante Unterschiede ergeben sich daraus nicht." Die AfD fragte nach den Vornamen der Tatverdächtigen Im nordrhein-westfälischen Innenministerium ging Anfang des Jahres 2020 die Frage nach den Vornamen der Tatverdächtigen mit deutscher Staatsangehörigkeit ein. Gestellt hatte sie der AfD-Abgeordnete Markus Wagner aus Bad Oeynhausen. Auch in anderen Bundesländern hatten Abgeordnete aus AfD-Landtagsfraktionen nach den Vornamen gefragt – die Vermutung offenbar: Unter den Deutschen seien etliche Migranten, die eingebürgert wurden. Die NRW-Landesregierung legte die Vornamen der deutschen Tatverdächtigen bei Fällen, in denen mit einem Messer gedroht oder es eingesetzt wurde, wie gewünscht vor. Demnach war der häufigste Name unter den Tätern Alexander, gefolgt von Kevin und Daniel.

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