Der Fall Anne Spiegel: Wie viel Menschlichkeit lässt Politik zu?

Berlin/Münster. &bdquo;Gegenwind macht mich kämpferisch“, hat Anne Spiegel einmal gesagt. Doch dem Sturm, der angesichts ihres Familienurlaubs und der von ihr geäußerten Unwahrheiten während der Flutkatastrophe losbrach, war die Bundesfamilienministerin nicht gewachsen. Da half es auch nichts, dass sie schonungslos offen die privaten Probleme in ihrer Familie erklärte – im Gegenteil schien das die Lage nur noch schlimmer zu machen. Das wirft zwangsläufig die Frage auf: Wie viel Menschlichkeit gestehen Politik und Gesellschaft Vertretern in diesen Ämtern zu? &bdquo;Das Private kann schon gut ankommen“, sagt Siegfried Preiser, Rektor der Hochschule für Psychologie in Berlin und Experte für politische Psychologie. Das könne man zum Beispiel an Personalien wie Frank-Walter Steinmeier oder dem ehemaligen brandenburgischen Ministerpräsident Mattias Platzeck sehen, die die Reißleine zogen, weil sie sich um die Gesundheit von Angehörigen oder sich selbst kümmern mussten. &bdquo;Im Fall von Frau Spiegel kamen die Eingeständnisse und die Entschuldigung aber eindeutig viel zu spät. Und dann noch in der unglücklichen Verquickung mit der Personalie Heinen-Esser.“ Dieser Ansicht ist auch Uwe Jun, Professor für Politikwissenschaften an der Uni Trier und Experte für politische Kommunikation. "Wir erleben ja gerade zunehmend, dass Politik eine stärkere Privatisierung erfährt." Das werde aber nur dann auf jeden Fall positiv wahrgenommen oder begrüßt, wenn Politiker es nicht für politische Zwecke instrumentalisieren. Die Erwartung ist ganz klar, und das ist in meinen Augen auch richtig, dass Menschen in politischen Ämtern die Interessen der Öffentlichkeit klar vor private Interessen stellen. Das erfordert der Job absolut." Sei dies nicht mehr möglich, müssten Konsequenzen gezogen werden. "Das findet dann wiederum Anklang, nehmen Sie das Beispiel Franz Müntefering, der zurücktrat, um sich um seinen kranke Frau zu kümmern. Das hätte Frau Spiegel auch tun können - und vielleicht auch sollen." Männer und Frauen werden mit zweierlei Maß gemessen Alexandra Scheele-Baer, Soziologin an der Uni Bielefeld und Expertin für Gleichstellungsfragen, sieht noch einen weiteren gravierenden Fehler von Seiten Spiegels. "Von Beginn an drehte sich der öffentliche Diskurs bei ihr und auch bei Annalena Baerbock immer auch um das Private, um die Kinder, um die Machbarkeit. Dass sie auf diesen Zug nun selbst aufgesprungen ist, war unklug." Gleichzeitig zeige die Debatte aber auch ohne das Zutun Spiegels, dass Männer und Frauen in der Politik mit zweierlei Maß gemessen würden. "Wenn ein Mann Einblicke in das Private gibt, findet das Beifall. Bei einer Frau wird von vornherein das Private als Ausschlusskriterium gewertet, dass sie den Job genau so gut machen kann wie ein Mann."Obendrein endeten die Fehler männlicher Politiker oftmals eben nicht in einem Rücktritt. "Nehme man das Beispiel Andreas Scheuer. Wie viele Fehler und Skandale der sich geleistet - und das einfach ausgesessen hat. Vielleicht hatte er aber auch mehr Rückhalt, das ist von außen natürlich schwer zu beurteilen." Bild vom fehlerfreien Politiker ist falsch Auch Politikexperte Jun sieht in den Geschehnissen geschlechtsbezogene Verzerrungseffekte. "Das ist der klassische Gender Bias, also eine verzerrte Wahrnehmung durch sexistische Vorurteile. Und Frau Spiegel ist da selbst mit aufgesprungen." Dennoch seien in der Flutkatastrophe gravierende Fehler passiert, die nichts mit dem Geschlecht zu tun hätten. "Und man landet in der Angelegenheit immer wieder bei Frau Spiegel, die ihrer politischen Verantwortung während und nach der Flut nicht ausreichend gerecht geworden ist. Und dann ist so jemand in den Augen vieler Beobachter als Ministerin nicht geeignet." Dennoch ist der Kommunikations- und Medienwissenschaftler Bernd Blöbaum der Ansicht: &bdquo;Das Eingestehen von Fehlern ist gut. Weil es zwei Signale erzeugt: Ehrlichkeit und Lernfähigkeit. Und das sind grundsätzlich positive Eigenschaften. Wir sind aber in dem Bild eines fehlerfreien Politikers oder einer fehlerfreien Politikerin verhaftet. Und das ist falsch.“ Besonders hart sei diese Wahrnehmung im politischen Raum. "Der besteht ja eigentlich nur aus einer klaren Freund-Feind-Struktur. Wenn dem Feind hier Fehler passieren, dann dient das einzig dem Zweck, ihn auszuschalten oder anzugehen - oftmals nicht aber der Auseinandersetzung mit der eigentlichen Sache. Das haben wir besonders in der Pandemie-Politik oft beobachten können." "Irgendwann läuft einem die Frau weg - oder der Mann" Und so ist der Druck auf die Verantwortlichen riesig. Denn auch, wenn man zu den Gründen nur spekulieren kann, ist klar: Das Einräumen ihrer privaten Krise war für Anne Spiegel kein gangbarer Weg. Auch andere, die mitten im politischen Leben stehen, können das Dilemma nachvollziehen. "Die Erwartungshaltung an Politikerinnen und Politiker ist mit der Zeit so weit gewachsen, dass sich nicht wenige überfordert fühlen", sagt der Bielefelder CDU-Landtagsabgeordnete Ralf Nettelstroth. "Ich kenne viele Leute, für die es deshalb nur heißt: Politik, Politik, Politik. Und irgendwann läuft einem dann die Frau weg - oder der Mann." Auch die Abgeordnete Bianca Winkelmann, Spitzenkandidatin der ostwestfälisch-lippischen CDU für die NRW-Landtagswahl, haben die Ereignisse der vergangenen Tage sehr beschäftigt. &bdquo;Wir dürfen nie vergessen, dass hinter jedem Politiker ein Mensch und im Zweifel auch eine Familie steht.“ Wenn die Erwartung sei, dass Politiker mit Eintritt in ein Spitzenamt ihr Privatleben abgeben, werde sich irgendwann niemand mehr dafür bereit erklären. &bdquo;Entscheidender als irgendwelche Urlaubsreisen ist doch, was politisch gelaufen ist und ob die notwendigen Entscheidungen getroffen wurden“, betont Winkelmann. Es gehöre zur Wahrheit dazu, dass SPD und Grüne die &bdquo;moralische Messlatte“ mit ihrer Kritik an der inzwischen zurückgetretenen NRW-Umweltministerin Ursula Heinen-Esser (CDU) zuletzt &bdquo;selbst sehr hochgelegt haben und ihnen das nun umso schwerer auf die Füße fällt“.

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