Milde Omikron-Verläufe: Wäre die Impfpflicht für alle noch rechtens?

Herr Prof. Mayer, lässt sich mit Blick auf die Belastung des Gesundheitswesens, die derzeit weniger stark ausfällt als in früheren Corona-Wellen, eine allgemeine Impfpflicht gegen das Coronavirus noch rechtfertigen? Wenn ja: Wie?Franz Mayer: Die Frage zielt auf die Verhältnismäßigkeit ab. Da kommt es auf die Zwecksetzung einer Impfpflicht an. Auf die aktuelle Momentaufnahme zur Belastung des Gesundheitswesens sollte man dabei nicht schauen. Vorrangiges Zwischenziel einer allgemeinen Impfpflicht mit dem epidemiologischen Mehrwert einer hohen Impfrate ist der höhere Immunisierungsgrad in der Bevölkerung. Daraus folgt alles andere an Zielstellungen, wie etwa die Minimierung des Risikos neuer, womöglich aggressiver Varianten, die Vermeidung einer zukünftigen Überlastung des Gesundheitssystems, die niemand sicher auszuschließen vermag. Könnte der Gesetzgeber eine allgemeine Impfpflicht beschließen, weil die Pandemie-Lage sich im Herbst wegen möglicher neuer Varianten oder der Rückkehr der Delta-Variante des Coronavirus erneut verschärfen könnte? Eine Impfpflicht zur Sicherheit sozusagen? Eine Impfpflicht auf späteren &bdquo;Abruf“ lässt sich rechtstechnisch sicherlich einrichten. Aber ein derartiges Zeitspiel erscheint aus epidemiologischer Sicht wenig sinnvoll, denn kurzfristig können wir die Grundimmunität bei neuen Entwicklungen nicht steigern, das braucht Zeit. Das könnte sogar ein verfassungsrechtliches Gegenargument ergeben, nämlich dass eine derart verzögerte Impfpflicht ein ungeeignetes Mittel ist. Naheliegender ist doch, die Impfpflicht jetzt einzuführen. Und wenn sich die Dinge unglaublich positiv entwickeln, dann kann man immer noch überlegen, sie wieder auszusetzen. >>> Bundesverfassungsgericht lehnt Eilantrag gegen Pflege-Impfpflicht ab Wie müssen körperliche Unversehrtheit und das Risiko für die Gemeinschaft abgewogen werden?Die körperliche Unversehrtheit kann nach Artikel 2 Absatz 2 Grundgesetz - vergleichsweise einfach - durch Gesetze eingeschränkt werden. Es kommt auf die guten Gründe und dann auf die Verhältnismäßigkeit an. Die guten Gründe hat man hier. Grundsätzlich gilt: Die Freiheit der Einzelnen endet da, wo Freiheit und Gesundheit vieler anderer in Gefahr sind – das ist hier der Fall, wenn die Impfkampagne nicht gelingt.Die Überwindung der Pandemie ist nach dem gegenwärtigen Stand der medizinischen Forschung vom Erfolg der Impfkampagne abhängig. Es geht also bei der Ablehnung der Impfung nicht um eine rein individuelle Entscheidung, bei der man sagen könnte, dass man das Risiko eben auf sich nimmt. Auch bei noch so guten Gründen muss die Impfpflicht verhältnismäßig ausgestaltet werden. Da prüft man insbesondere, ob die Impfpflicht geeignet ist, die damit verbundene Zielsetzung zu erreichen. Und ob es keine milderen Mittel gibt. Hier muss man sehr aufpassen, dass man das nicht mit einem Laienverständnis von "milderes Mittel" angeht. Im Verfassungsrecht geht es um mildere und – wichtig – gleich wirksame Mittel. Und zwar für ein definiertes Ziel. Das wäre hier ein hoher Immunisierungsgrad in der Bevölkerung. Keiner kann aber für vorliegend denkbare mildere Mittel die gleiche Wirksamkeit absolut sicher garantieren. In Anbetracht der ungewissen Lage und der großen Gefahren für die höchstrangigen Rechtsgüter Leben und Gesundheit vieler würden dann die Gerichte der Politik große Spielräume lassen und nicht erlauben, dass die Politik sich hinter den Gerichten versteckt. Welche Rolle spielt für die rechtliche Bewertung, dass die Coronaschutz-Impfstoffe gegen kommende Varianten eventuell weniger wirksam sein könnten und es darüber hinaus Millionen Genesene gibt und geben wird, die zeitweise auch als immunisiert gelten? Die Frage zielt auf die Verhältnismäßigkeit ab, und zwar zunächst einmal auf die Geeignetheit der Impfpflicht, den angestrebten Zweck zu erreichen. Wenn dieser ein maximal hoher Immunisierungsgrad der Bevölkerung zwecks wirksamer Eindämmung der Pandemie ist, dann reicht aus, dass die Impfstoffe auch gegen die neue Variante einen Schutzmehrwert aufweisen. Das ist der Fall. Das Bundesverfassungsgericht hat im Kontext der Bundesnotbremse betont, dass man in der Pandemie nicht auf zweifelsfreie empirische Nachweise der Wirkung oder Wirksamkeit von Maßnahmen beharren kann.Was die Genesenen angeht: Da geht es auch wieder um die Verhältnismäßigkeit, und hier nun um die Erforderlichkeit einer Impfpflicht, den angestrebten Zweck zu erreichen. Das ist die Frage danach, ob es nicht doch ein milderes, gleich wirksames Mittel im Vergleich zur Impfpflicht gibt, um das Ziel des hohen Immunisierungsgrades in der Bevölkerung zu erreichen, etwa das Zuwarten und Setzen darauf, dass sich ausreichend viele infizieren und dadurch die Immunität in der Bevölkerung steigt. Allerdings ist Abwarten, bis ausreichend viele infiziert sind, schon kein milderes Mittel: Anhaltende Schädigungen und Long Covid treten bei der Immunisierung durch Impfung nicht in vergleichbarem Umfang auf. Es ist auch kein gleich wirksames Mittel, weil die "Durchseuchung" ja kein einheitliches Immunisierungsniveau ergibt - je nachdem, wie viel Viruslast man abkriegt, ist das mal mehr oder weniger. Unklar ist auch, ob, wie und wie lange die Immunität nach einer Omikron-Infektion auch gegen alte oder neue Varianten schützt. Bisher sieht es so aus, dass die Impfung jedenfalls mit Boosterung besser und stabiler immunisiert gegen neue Varianten als eine durchlittene Infektion. Bei all diesen Fragen bestehen Unsicherheiten, und - nochmals - dann würden die Gerichte letztlich der Politik weiten Spielraum lassen. Weil die Gerichte diese Fragen auch nicht besser beurteilen können als die Politik, Letztere aber die unmittelbare demokratische Legitimation und dann aber auch Verantwortung hat. Muss eine allgemeine Impfpflicht gegen das Coronavirus befristet sein? Da müsste man die Einzelheiten und die Begründung des Befristungsarguments anschauen. Nach Einführung einer allgemeinen Impfpflicht wären alle oder fast alle geimpft. Dann geht das Argument, dass die befristete Impfpflicht ein milderes Mittel wäre, ins Leere – es wären ja eh alle geimpft. Wenn es um die Frage der erneuten Impfung nach einer gewissen Zeit geht, dann kann es dafür gute medizinische Gründe geben. Wahrscheinlich wäre es aber klug, die Impfpflicht zeitlich zu begrenzen oder alle paar Monate eine gesetzgeberische Überprüfung vorzusehen, um sowohl dem Ausnahmecharakter wie auch der dynamischen Entwicklung der Pandemie Rechnung zu tragen. Da sollte der Gesetzgeber eine intelligente Regelung vorsehen. Wäre auch eine allgemeine Impfpflicht nur für eine bestimmte Altersgruppe, etwa Menschen ab 50 Jahren, rechtlich umsetzbar? Es käme sehr auf die Begründung an. Wenn man nur Teile der Bevölkerung in die Pflicht nimmt, stellt sich immer auch ein Gleichbehandlungsproblem – die ungleiche Inpflichtnahme muss einen guten Grund haben. Daneben ist das wieder die Frage nach dem milderen, gleich wirksamen Mittel. Neben der Impfpflicht nur für manche wäre hier noch zu denken an Informationskampagnen, die &bdquo;Durchseuchung“, eben alles, was unterhalb der allgemeinen Impfpflicht bleibt. Es kann aber niemand für all diese denkbaren milderen Mittel die gleiche Wirksamkeit absolut sicher garantieren. Die rechtliche Antwort lautet also wiederum: großer Spielraum für den Gesetzgeber. Anders gesagt: Das Verfassungsrecht nimmt der Politik die schwierige Entscheidung sowohl über das Ob als auch über das Wie einer Impfpflicht nicht ab, es markiert nur einen äußersten Rahmen.

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