Corona-Impfung für Kinder: Verunsicherung geht von den Experten aus

Bielefeld/Berlin. Kinderärzte in ganz Deutschland warten gespannt auf eine Entscheidung der Ständigen Impfkommission (Stiko) in Berlin. Sollen künftig auch Kinder im Alter zwischen fünf und elf Jahren eine Corona-Impfung erhalten? Mit einem Präparat, das dann geringer dosiert sein würde? Die Europäische Arzneimittelbehörde (EMA) hatte den Weg dafür vor einer Woche frei gemacht. Doch Thomas Mertens, der Vorsitzende der Stiko, hat jetzt Skepsis gesät: Er würde ein siebenjähriges Kind derzeit nicht impfen lassen, wenn es sein eigenes wäre, gab er in einem Podcast der FAZ zu Protokoll. Seine Begründung: Abgesehen von den Daten aus der Zulassungsstudie des Impfstoffs gebe es "keinerlei Daten" über die Verträglichkeit des Impfstoffs in der Gruppe der Kinder unter elf Jahren. Die aktuellen Publikationen zeigten, dass Aussagen über Langzeitschäden kaum möglich seien. Unklar ist etwa das Risiko einer Herzmuskelentzündung nach der Impfung. Mertens Stellungnahme hat die allgemeine Verunsicherung in der Frage der Corona-Impfung für Kinder verschärft. Die Uneinigkeit reicht bis in die Kreise der Experten hinein. In der parallel laufenden Diskussion über eine allgemeine Impfpflicht zeichnet sich gar ein handfester Streit ab, der die Spaltung der Bevölkerung vertiefen könnte. Eine Auseinandersetzung, die den Start der Ampel-Koalition zu überschatten droht. Ermahnung an die Adresse des Stiko-Chefs Die Kritik an Mertens ließ nicht lange auf sich warten: "Wir impfen jetzt seit einem Jahr", meldete sich Jakob Maske zu Wort, der Sprecher des Verbandes der Kinder- und Jugendärzte. Es sei absurd, "da jetzt eine Angst zu schüren, was vielleicht in Jahren passiert und von Langzeitfolgen zu sprechen". Und er gab Mertens auch eine Mahnung mit: "Das war hoffentlich ein unbewusster Ausrutscher". Immerhin sei bereits absehbar, "dass der Impfstoff relativ gut verträglich ist", so Maske. In den USA seien schon über zwei Millionen Dosen an Kindern verimpft worden: Es gebe "Hinweise, dass das Risiko absolut gering ist." Der jetzt kritisierte Mertens ist nicht irgendwer: Der 71-jährige ist selbst Arzt und Virologe, bis 2018 leitete er das Institut für Virologie der Uniklinik Ulm. Und er ist Chef eines Expertengremiums, das zwar vom Robert-Koch-Institut (RKI) organisiert wird – also einer Forschungseinrichtung der Bundesregierung und zugleich einer Oberbehörde unter dem Dach des Bundesgesundheitsministeriums. Aber die Stiko soll eben auch unabhängig von politischen Vorgaben handeln. Dass die Ständige Impfkommission nicht unfehlbar ist, hatte Mertens gerade erst zugegeben: So seien Entscheidungen im Hinblick auf die Booster-Impfungen wohl zu spät von der Stiko getroffen worden – rückblickend wäre es "wahrscheinlich günstiger gewesen, mit dem Boostern früher anzufangen", erklärte Mertens. Otto Schily wettert gegen Pläne für Impfpflicht Trotz möglicher Fehler ist Mertens natürlich ein führender Kopf. Seine Äußerung zur Zurückhaltung im Hinblick auf das Impfen von Kindern ist auch deswegen interessant, weil ein anderer Prominenter sich vor wenigen Wochen ähnlich geäußert hatte und dafür einen derben Shitstorm erntete: Der TV-Philosoph Richard David Precht ("Wer bin ich – und wenn ja, wie viele?") hatte in einem Podcast (gemeinsam mit Moderator Markus Lanz) den wachsenden Druck auf Ungeimpfte beklagt und sich etwas holprig gegen Kinderimpfungen ausgesprochen: "Ich würde Kinder sowieso niemals impfen", so Precht, "weil ein im Aufbau begriffenes Immunsystem mit diesem Impfstoff da zu bearbeiten – das würde ich niemals tun." In sozialen Medien wurde ihm daraufhin vorgeworfen, sich ohne die nötige Expertise zu Wort zu melden. Precht wurde in seriösen Medien verhöhnt und wegen seiner Äußerungen in die Nähe von Querdenkern gerückt – schnell sah er sich offenbar genötigt, seine Aussagen in einem Interview mit der Wochenzeitung Die Zeit zu relativieren. Unterdessen hat sich mit Otto Schily jetzt ein bekannter ehemaliger Minister gegen eine allgemeine Corona-Impfpflicht gewandt: Eine solche Impfpflicht sei "unverantwortlich", wetterte er in der Welt, "nicht einmal in der sonst so vehement als autoritär gescholtenen Volksrepublik China besteht sie." Auch Schily skeptisch gegenüber Impfungen für Kinder Der SPD-Politiker war in der Regierung Schröder von 1998 bis 2005 Innenminister und damit auch Verfassungsminister. Insofern hat sein Wort besonderes Gewicht, wenn er schreibt, die Impfpflicht sei "schlicht verfassungswidrig". Schily: "In einer freiheitlich-rechtsstaatlichen Demokratie darf sich der Staat nicht anmaßen, dem einzelnen Menschen eine bestimmte ärztliche Behandlung aufzuzwingen." Obendrein sei eine Impfpflicht in der Vergangenheit immer wieder kategorisch ausgeschlossen worden, erinnert er und poltert, es sei "gewissenlos, die früheren Festlegungen in einer Frage, die den Kern der Grundrechte angeht, einfach über Nacht zu Makulatur zu erklären". Auch Schily, der darauf verweist, dass er selbst bereits dreimal geimpft sei und die Impfung den vulnerablen Gruppen auch sehr empfehle, äußert sich skeptisch zur Frage der Impfungen für Kinder. Er habe zwar keine Übersicht über gesundheitliche Beeinträchtigungen durch Impfungen bei Kindern, aber: "Soweit mir bekannt ist, besteht durchaus Anlass zur Sorge, dass erhebliche Impfschädigungen in nicht unerheblicher Größenordnung auftreten." Schadet Meinungsfreiheit dem Ziel, die Impfquote zu steigern? Man kann darauf verweisen, dass Schily aus einer Familie stammt, die als anthroposophisch orientiert gilt. Die anthroposophische Medizin ist nicht generell gegen Imfpungen, macht aber Vorbehalte geltend, ähnlich wie die Homöopathie. Ob Schilys Kritik also von den Rudolf-Steiner-Anhängern beeinflusst ist? In Licht der Auseinandersetzungen unter Experten muss die Zurückhaltung vieler Normalbürger vielleicht milder beurteilt werden. Nicht jeder Impf-Skeptiker ist ein verwirrter Egoist oder gar ein Rechtsradikaler. Dem Ziel, die Impfquote zu erhöhen, schadet die Meinungsfreiheit unter Umständen. Doch wir dürfen dieses Grundrecht nicht aufs Spiel setzen. Vielleicht hilft es aber, mit gutem Vorbild voranzugehen. Dem Autoren dieser Zeilen jedenfalls erscheint das Risiko einer Corona-Infektion und ihrer Folgen ungleich größer als das Risiko der Impfung - vor allem für Erwachsene. Er wartet derzeit auf den Termin zum Boostern.

Meistgelesen