Wie Amerikas Demokratie an den Rand des Abgrunds geriet

Washington. Dass etwas Unheilvolles in der Luft lag, konnte ahnen, wer am im Hinterhof des Weißen Hauses im eiskalten Winterwind mit Liz Tyler sprach. Die 63-Jährige war eigens aus Eureka in Kalifornien zur großen &bdquo;Kippt die Wahl”-Demonstration nach Washington geflogen. &bdquo;Joe Biden hat einfach nicht gewonnen”, sagte Tyler dieser Redaktion, während nebenan auf der großen Bühne die stampfenden Töne von &bdquo;Macho Man”, dem alten Hit der &bdquo;Village People”, aus den Boxen dröhnten, &bdquo;wir sind betrogen worden. Und das werden wir heute hier unmissverständlich klarstellen.” Tyler fühlt sich bestätigt, als Donald Trump kurz darauf vor zigtausend Anhängern, deren &bdquo;Stop the Steal"-Plakate bis zum Obelisken reichen, ans Mikrofon tritt und die Massen geradezu anstachelt. Um die offizielle Bestätigung Joe Bidens als 46. Präsident zu stören, ruft der Abgewählte seine Fans explizit dazu auf, sie sollten vor das keine zwei Kilometer entfernte Kapitol ziehen und die dort versammelten Abgeordneten Mores lehren. &bdquo;Wir werden dort hingehen, und ich werde bei Euch sein", schreit Trump, &bdquo;wir werden nicht zulassen, dass sie Eure Stimmen zum Schweigen bringen.” Bevor er wieder in den Wagen-Konvoi Richtung Weißes Haus steigt, gibt der erste Mann im Staat seinen Leuten einen verhängnisvollen Rat: &bdquo;Sie werden unser Land niemals mit Schwäche zurückerobern.” Mit diesem unverhohlenen Aufruf zum Widerstand fing die Katastrophe an, die Amerikas Herzkammer der Demokratie die größte Schande eintrug, seit britische Truppen vor über 200 Jahren das Kapitol in Brand steckten. Keine 20 Minuten nach Trumps Rede, es ist kurz nach 14 Uhr, werden vor der ehrwürdigen Kuppel des Kongresses die ersten Sperrzäune niedergetrampelt. Weit über 1.000 Demonstranten schieben sich mit Macht Richtung Eingangstüren. Fenster werden eingeworfen, überforderte Beamte der Kapitol-Polizei einfach aus dem Weg geschoben. Kurz darauf stehen die ersten Eindringlinge frech in den Säulen-Gängen des Parlaments, schlagen Möbel kurz und klein, verschaffen sich Zutritt zu den Räumen der Abgeordneten, posieren lässig für Selfies in den Sesseln der gewählten Volksvertreter, pinkeln in Ecken und klettern über die Besuchertribünen in die Parlamentssäle. Einige Abgeordnete und Senatoren kauern sich wie bei einer Notfall-Übung gegen Amokläufer auf den Teppichboden. Oder hinter Schreibtische. Holy shit pic.twitter.com/dofEG2SmqP Jim Newell (@jim_newell) January 6, 2021Frappierend das Unrechtsbewusstsein vieler, die sich an der symbolischen Machtergreifung beteiligen. Jim, 46, aus Richmond im benachbarten Virginia, der seinen Nachnamen nicht sagen will, erklärt später auf dem Vorplatz des Kapitols, es sei &bdquo;einfach höchste Zeit gewesen, diesen korrupten Politikern zu zeigen, wo der Hammer hängt und dass wir uns nicht weiter verarschen lassen”. Der kleine, dicke Mann, der ein abgewetztes Trump-T-Shirt über seine Lederjacke gezwängt hat, wirkt dabei euphorisch wie ein Fußball-Hooligan nach einer Hauerei mit den Fans eines verfeindeten Klubs. Den Polizisten, von denen viele zusehen, wie der Mob agiert, schreit er ins Gesicht, sei seien &bdquo;alle Verräter”, die "nutzlos von unserem Steuergeld bezahlt werden, anstatt die zu verhaften, die Trump den Wahlsieg gestohlen haben”. "Am besten gleich aufhängen" Jims Kumpel Jeffrey, auch er will anonym bleiben, wiederholt mit seinen Worten, was Trump vorher wahrheitswidrig in die Welt gesetzt hat: Dass Mike Pence &bdquo;den Sozialisten Biden verhindern kann, wenn er nur Eier hätte”. Dass der Vizepräsident eine derartige Intervention als verfassungswidrig ablehnt, macht den 50-Jährigen rasend. &bdquo;Man sollte diese Landesverräter anklagen - oder am besten gleich aufhängen.” Dass sich ein gewalttägiger Mob an diesem 6. Januar 2021 tatsächlich anschickt, die offizielle Ausrufung des rechtmäßig gewählten Präsidenten Joe Biden zu sabotieren, sickert nur langsam ins Bewusstsein. Pence, der die Sitzung leitet, lässt den Saal räumen. Wie bei einem Terror-Angriff werden die meisten Parlamentarier evakuiert. Mit gezogener Waffe halten Kongress-Mitarbeiter Randalierer in Schach. Aus noch ungeklärter Ursache fallen Schüsse. Die Polizei, die Tränengas gegen die Demonstranten einsetzt, erschießt die 44-jährige Ashli Babbitt. Die ehemalige Pilotin der Luftwaffe war aus San Diego nach Washington gekommen, um, so ihr Ehemann, gegen den &bdquo;Betrug an Trump” zu kämpfen. Später wird Robert Contee, der Polizeichef Washingtons, mitteilen, dass bei den Unruhen weitere drei Tote und rund 20 verletzte Beamte zu beklagen sind. Er spricht von &bdquo;medizinischen Notfällen”. Was das heißt? Unklar. Trump stellt sich vor die Randalierer Eindeutig ist dagegen, wie Donald Trump die Lage sieht. &bdquo;Das sind Dinge und Ereignisse, die passieren, wenn ein ehrwürdiger Erdrutschsieg bei einer Wahl ohne viel Federlesen auf so bösartige Weise großen Patrioten entrissen wird, die so lange schlecht und unfair behandelt worden sind”, schreibt er auf Twitter und stellt sich damit unverblümt vor die Randalierer, während Demokraten und viele Republikaner längst von &bdquo;Inlands-Terroristen” sprechen. Während Joe Biden sichtlich erschüttert live vor die Kameras geht und seiner Empörung über die beispiellose Gewaltorgie freien Lauf lässt, bringt das Weiße Haus ein Video in Umlauf, das angeblich zur Deeskalation beitragen soll. Darin bittet Trump seine Anhänger in lapidar verharmlosendem Ton, sie sollten &bdquo;friedlich” bleiben und &bdquo;nach Hause” gehen. Anstatt sich unmissverständlich zu distanzieren, sucht er rhetorisch den Schulterschluss: &bdquo;Ich weiß, wie ihr fühlt. Wir lieben euch.” Wir? Viele Republikanern reagieren mit Abscheu: &bdquo;Es steht außer Frage, dass der Präsident den Mob aufgebaut hat, dass der Präsident den Mob angestachelt hat, dass der Präsident den Mob angesprochen hat. Er hat die Flamme entzündet”, urteilt die Abgeordnete Liz Cheney, Tochter des früheren Vize-Präsidenten Dick Cheney. &bdquo;Was hier heute passiert ist, war Aufruhr, angestiftet vom Präsidenten der Vereinigten Staaten”, sekundiert Senator Mitt Romney. Pence bricht mit Trump Gegen 17.40 Uhr meldet die Polizei, inzwischen verstärkt von aus den Nachbarbundesstaaten Maryland und Virginia herbeigerufenen Nationalgardisten, dass die Gefahr im Kapitol gebannt und die Lage unter Kontrolle sei. Einsatzgruppen in Kampfmontur drängen die noch verbliebenen Protestler immer weiter weg vom Schauplatz. Ab 20 Uhr kommt der Kongress wieder zusammen, um den Job zu vollenden: die Beglaubigung des Wahlsieges Bidens. Es ist eine klassische Jetzt-erst-recht-Reaktion. Mike Pence bricht mit Trump, als er an die Adresse der Aufständischen sagt: &bdquo;Sie haben nicht gewonnen. Gewalt gewinnt nie.” Unter dem Eindruck der Ausschreitungen knicken etliche Republikaner, die noch am Morgen zum Frommen Trumps per Antrag die Zertifizierung der Ergebnisse etlicher Bundesstaaten wegen angeblicher Unregelmäßigkeiten hintertreiben und so Bidens Machtübernahme verzögern wollten, ein. Zwar wird noch einige Stunden debattiert. Und im Repräsentantenhaus stützen rund 140 konservative Abgeordnete weiter Trumps Legende vom Wahlbetrug. Aber vielen sitzt der Satz im Nacken, den der nach den Verlusten bei der Stichwahl in Georgia bald machtlos werdende Chef der Republikaner im Senat, Mitch McConnell, gesagt hat, bevor das Kapitol in Gewalt versank: &bdquo;Wenn wir das Ergebnis der Wahl verwerfen, beschädigen wir unsere Republik für immer. Dann gerät unsere Demokratie in eine Todesspirale.” Um 3.40 Uhr am Donnerstagmorgen ist der Spuk vorbei. Mike Pence verkündet, was seit Wochen klar ist: Joe Biden hat mit 306 zu 232 Wahlmänner-Stimmen gewonnen und wird als 46. Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika am 20. Januar vor dem Kapitol vereidigt. Und Donald Trump? Noch vor Morgengrauen lässt er twittern, dass es eine &bdquo;geordnete Machtübergabe” geben werde. Kein Bedauern. Keine Anteilnahme. Keine Übernahme von Verantwortung. Trump denkt unverändert wie Liz Tyler, die 63-Jährige aus Kalifornien: &bdquo;Joe Biden hat einfach nicht gewonnen.”

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