So sind wir Wähler eben: Vor der Wahl erwarten wir von den Parteien klare Unterschiede. Nach der Wahl sollen sie zu einem einheitlichen Kollektiv verschmelzen und harmonisch durchregieren – damit wir ihnen anschließend mangelndes Profil vorwerfen.
Die SPD hat sich dieser merkwürdigen Logik in den vergangenen Jahren bis zur Unkenntlichkeit gebeugt. Während die AfD und auch Teile der Union die Öffentlichkeit mit rechtspopulistischem Getöse beschäftigen, verspricht die Linke nicht minder schrill die Segnungen des Sozialismus. Dazwischen regieren die Sozialdemokraten brav mit und ihr Spitzenpersonal präsentiert so aufregende Ereignisse wie die Einsetzung von Expertenkommissionen oder verbesserte Förderkonditionen für Wohneigentum.
Man kann das pflichtbewusst nennen oder staatstragend, und tatsächlich wäre diese Republik derzeit unregierbar, hätte sich die SPD nicht in die Koalition mit CDU und CSU begeben. Aber der Preis ist hoch, sehr hoch: Bei 15 Prozent liegt die Partei heute in bundesweiten Umfragen.
Nur wenige Sozialdemokraten verteidigen Wiebke Esdar
Vor diesem Hintergrund ist die Diskussion um die Bielefelder SPD-Abgeordnete Wiebke Esdar so bemerkenswert. Die Vize-Chefin der Bundestagsfraktion hat sich auf einer Demonstration gegen den Kanzler und CDU-Vorsitzenden Merz positioniert, der mit seinen „Stadtbild“-Äußerungen zumindest in Kauf genommen hat, dass sich Millionen Deutsche mit Migrationsgeschichte diffamiert und ausgegrenzt fühlten.
Dass Esdar dafür von Unionspolitikern angegriffen wurde, ist nicht überraschend. Auffällig ist dagegen die Sprachlosigkeit in ihrer eigenen Partei. Selbst die wenigen prominenten Sozialdemokraten, die Esdar verteidigt haben, taten das eher müde bis wolkig.
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Dabei hat sie keinen abwegigen Juso-Vorschlag vertreten, sondern eine grundlegende Haltung ihrer Partei: „Unser Ziel ist eine Gesellschaft, in der alle Menschen gleich an Würde, gleich an Chancen und frei von Diskriminierung, oder gar Angst vor Bedrohung und Gewalt sicher leben und ihre Träume verwirklichen können“, heißt es im jüngsten Wahlprogramm der SPD. Wenn man selbst das nicht mehr offen sagen soll oder will, weil man den Streit mit dem Koalitionspartner scheut, muss man sich ernsthafte Sorgen um die Partei machen.
SPD muss erklären, wofür sie steht
Im Koalitionsvertrag haben SPD und Union vereinbart, was sie gemeinsam umsetzen wollen. Das müssen sie liefern, und gern auch zügiger als derzeit. Über alles Übrige aber dürfen und müssen sie nach Kräften streiten, miteinander und mit allen anderen.
Die Union tut das längst und ohne große Rücksichtnahme. Die SPD muss sehr schnell und sehr laut erklären, wer sie ist und wofür sie steht – weil die Lautsprecher von links und rechts sie sonst in Grund und Boden brüllen.