Die Fußball-Europameisterschaft der Männer hat Deutschland nicht zu einem anderen Land gemacht. Sie war allein mangels stabilem Sommerwetter kein neues Sommermärchen. Und vermutlich wird man auch in einigen Jahren mehr über die Fehlentscheidungen der Schiedsrichter sprechen als über die Traumtore der Wunderkinder Arda Güler, Jamal Musiala und Lamine Yamal.
Aber diese fünf Wochen haben dennoch etwas ausgelöst in diesem Land. Sie haben neue Sehenswürdigkeiten hervorgebracht wie die weltberühmten Wasserfälle im Westfalenstadion, hüpfende Holländer und schwankende Schotten, die mit Dudelsack und Kilt noch lange nach dem glanzlosen Ausscheiden ihrer Mannschaft bejubelt an allen Spielorten auftauchten.
Lesen Sie auch: Alles Wichtige zur EM 2024
Europa weiß jetzt, dass Klischees über Deutschland nicht immer stimmen müssen – weder die tief sitzenden Befürchtungen von einem steifen und unfreundlichen Gastgeberland noch die alten Geschichten von der sprichwörtlichen deutschen Effizienz.
In Deutschland wurde eine große Party gefeiert
Deutschland ist ein Land, in dem der Alltag zum Abenteuer werden kann, wenn man seine Zeitplanung allzu naiv der Bahn anvertraut hat – oder an Kartenzahlung glaubt und ohne ausreichend Bargeld in der Tasche unterwegs ist. Und ja, auch Deutschland hat Städte, die vom industriellen Strukturwandel so stark getroffen wurden wie etwa Sheffield oder Katowice.
Aber Deutschland war in diesen fünf Wochen eben auch das Land, in dem Millionen fröhlich und meist friedlich feiernder Menschen aus allen Teilnehmerländern eine große Party feierten. Es war wirklich einmal das Zentrum Europas, einfach mit dem Zug erreichbar (mit ein, zwei Stunden Verspätung) für Zehntausende aus der weit verstreuten Diaspora Rumäniens, Albaniens, Kroatien, Polens und der Türkei und sowieso für Schweizer, Österreicher, Franzosen und, man kann sie gar nicht oft genug erwähnen, hüpfenden Holländer.
Lesen Sie auch: Chip im Ball, Fanpartys, Rumpelkicks: Was bleibt von der EM?
Die EM-Botschafterin und zweimalige Frauen-Europameisterin Célia aic hat gerade in einem Interview beschrieben, wie viele Fans sich bei ihr bedankt haben: „Danke für dieses Turnier, danke, dass wir hier gemeinsam mit so vielen anderen Europäerinnen und Europäern feiern dürfen. In einem freien Land, mitten in Europa.“
Fußball als Basis für ein gelebtes, friedliches Miteinander
Und spätestens hier ist klar, dass Fußball eben doch politisch ist. Nicht auf eine krampfhafte Weise wie dem auf ganzer Linie gescheiterten Umgang des DFB und der Politik mit der gekauften Weltmeisterschaft in Katar. Sondern als alltägliches, gelebtes, friedliches Miteinander. Das ist nicht viel – und dennoch die Basis von allem.
Selbst die AfD konnte ihren Hass gegenüber der deutschen Mannschaft mit ihren vielen Migrationshintergründen und pinkem Erfolgstrikot nicht durchhalten, weil dieses Team in seiner souveränen Selbstverständlichkeit demonstrierte, was Deutschland heute ist und wie weit es kommen kann (hoffentlich nächstes Mal weiter als bis ins Viertelfinale).
Auch außerhalb Deutschlands zeigt diese EM, wie politisch der Fußball ist, wenn Rechtspopulistin Marine Le Pen dem französischen Superstar Kylian Mbappé abspricht, eine Wahlempfehlung abgeben zu dürfen - und dann unerwartet die Wahl verliert.
Lesen Sie auch: Mbappé & Co. in Paderborn und Bad Lippspringe: So verlief Frankreichs Aufenthalt bei der EM 2024
Sie zeigt in der großen Aufregung über den türkischen Wolfsgruß und der viel kleineren Aufregung über rechtsradikale Österreicher und nationalistische Balkan-Fans, wie schnell Fußball auch heute noch für gefährliche Ressentiments zu missbrauchen ist - und dass Verbände und Anhänger wachsam bleiben müssen.
Natürlich hat der Fußball die Krisen und Ängste in Deutschland und Europa nicht verschwinden lassen. Diese EM war dennoch ein Geschenk. Sie war das Gewittermärchen 2024.