Kommentar

Überlasst Europa nicht seinen Zerstörern

Wir brauchen mehr Europa – nicht weniger. Wer nur seinen Frust in die Wahlurne kippt, schadet uns allen. Wer renovieren will, beauftragt kein Sprengkommando, findet unser Autor.

Am Sonntag, 9. Juni, sind die Menschen in Deutschland aufgerufen, das europäische Parlament zu wählen. | © Arne Immanuel Bänsch

Klaus Schrotthofer
08.06.2024 | 08.06.2024, 09:08

Nein, die Demokratie muss niemand retten am Sonntag, auch wenn es ständig behauptet wird. Die Tatsache, dass 360 Millionen Menschen in Europa ihr Parlament frei wählen können, belegt eindrucksvoll, wie vital und erfolgreich dieses weltweit einmalige Projekt noch immer ist. Völker, die sich einst erbittert bekämpft haben, leben heute in Frieden und Wohlstand zusammen. Man stelle sich vor, die Länder Nordafrikas oder des Nahen und Mittleren Ostens schlössen sich auf diese Weise zusammen. Die Welt wäre ein besserer Ort.

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Gefahr besteht dennoch. Weniger für die Institutionen der EU, viel mehr für die Werte, auf denen sie gründet. Menschenwürde, Freizügigkeit und Rechtsstaatlichkeit, die Bereitschaft zum Ausgleich und zur Solidarität – darum geht es auch bei dieser Europa-Wahl. Es sind letztlich zwei große Blöcke, die mehr denn je miteinander konkurrieren. Da sind die einen, die behaupten, dass es uns besser ginge, wenn die Nationalstaaten vorrangig ihre eigenen Interessen vertreten. Die anderen, die das bestehende System verteidigen oder noch ausbauen wollen, weil es den Interessen der Einzelstaaten letztlich besser dient.

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Es ist nicht schwer zu erkennen, welche These plausibler ist. Liefe Deutschlands Wirtschaft im Wettbewerb mit den USA, China und Indien im nationalen Alleingang besser? Die meisten Briten bereuen bitter, den Lügen der Brexit-Clowns gefolgt zu sein. Heute erleben sie, wie begrenzt die Möglichkeiten einer einzelnen Volkswirtschaft im weltweiten Maßstab sind und wie verheerend sich die gewünschte Abschottung auswirkt.

Die Krisen überfordern nationale Regierungen

Wer kann ernsthaft annehmen, dass sich die großen Herausforderungen unserer Zeit in Berlin, Paris oder Rom lösen ließen? Der Kampf gegen den Klimawandel, die weltweite Migration, die Sicherheit unserer Grenzen oder die Folgen der Digitalisierung überfordern nationale Regierungen so offensichtlich, dass man sich fragen muss, aus welchen Gründen Menschen und Parteien das Gegenteil behaupten.

Dummheit wäre noch das mildeste Motiv, doch wer die Verbal-Schlägertruppe der europäischen Ultrarechten betrachtet, wird persönliche Interessen, Machtgier und Korruption für wahrscheinlicher halten. Warum werden solche Leute gewählt?

Politische Wohlstandsverwahrlosung

Ein Mangel an Information könnte ein Grund sein (und mangelnde Bereitschaft, sich zu informieren) oder gezielte Desinformation durch Lügen und skrupellose Propaganda. Doch es gibt auch eine politische Wohlstandsverwahrlosung, die zu der falschen Annahme verleitet, man könne folgenlos die eigene Befindlichkeit und vage Unzufriedenheit in eine Wahlurne kippen.

Es ist eine leicht reiz- und verführbare Gesellschaft, die jetzt vor der Wahl steht. Aber der Erregungszustand ändert nichts an den Tatsachen. Man kann nicht wirtschaftlichen Erfolg, Reisefreiheit oder europaweite Handygebühren als Selbstverständlichkeit beanspruchen und den komplizierten Rest den Vereinfachern und Ego-Shootern überlassen. Man kann nicht in einem Haus wohnen und zugleich dessen Fundamente untergraben. Wer renovieren will, beauftragt kein Sprengkommando.

Das Parlament macht einen Unterschied

Es macht einen Unterschied, wer im EU-Parlament sitzt. Nicht Ursula von der Leyen regiert Europa. Was aus Brüssel kommt, wurde von den europäischen Regierungen und in den entscheidenden Fragen von den EU-Abgeordneten mitbestimmt.

Nein, diese Union ist sicher nicht perfekt und es gibt vieles an ihr zu kritisieren. Aber sie ist die bestmögliche Option, den Frieden, den Wohlstand und den gesellschaftlichen Zusammenhalt auch in der Zukunft zu sichern. Deshalb sollten wir am Sonntag jene wählen, die glaubhaft und besonnen darlegen können, dass und wie sie dieses wunderbare Europa noch stärker und noch besser machen können. In unserem eigenen Interesse.

Kontakt zum Autor: nachrichtenr@nw.de