
Der frühere Bundeskanzler Helmut Kohl sprach gern vom „Mantel der Geschichte“, um die historische Dimension einer politischen Zäsur zu beschreiben. Er hat ihn in den Jahren 1989/90 beherzt ergriffen – und musste sich doch lebenslang Spott gefallen lassen, weil er in seiner spießigen Provinzialität darunter verschwinde, wie es hieß.
Beim heutigen Amtsinhaber weht kein Mantel. In der ihm eigenen Nüchternheit sprach Olaf Scholz vor einem Jahr von einer „Zeitenwende in der Geschichte“, als Russland die Ukraine überfallen hatte. Die Fallhöhe ist trotz der maßvollen Wortwahl nicht geringer.
Kohl musste nach dem Ende des Ost-West-Konflikts eine Perspektive für das wiedervereinigte Deutschland entwickeln. Scholz muss damit umgehen, dass eines der mächtigsten Länder dieser Welt das Rad der Geschichte um 30 Jahre zurückdrehen will. Er muss mit Geld und Waffen einen Krieg munitionieren, ohne selbst Kriegspartei zu werden. Er muss Deutschlands Rolle in einer sich fundamental verändernden Weltordnung definieren. Und sieht sich zugleich mit den dramatischen Folgen der Klimakrise und der digitalen Revolution konfrontiert, die unseren Wohlstand massiv bedrohen.
Die Koalition ist groß im Kleinen
Werden Olaf Scholz und seine Bundesregierung dieser historischen Herausforderung gerecht? Ja und Nein. Deutschland ist einer der drei wichtigsten Alliierten der Ukraine und hat – entgegen aller Polemik – erheblich dazu beigetragen, Putins Marsch auf Kiew zu stoppen. Und mit Milliarden und Abermilliarden wurde verhindert, dass der Ukraine-Krieg die Wirtschaft unseres Landes nachhaltig beschädigt. Es gibt ausreichend Strom und Gas, mit Subventionen aller Art wurden soziale Härten abgefedert. Mehr als eine Million Kriegsflüchtlinge haben in Deutschland Schutz gefunden. Die Bundesregierung hat sehr erfolgreich Krisenmanagement betrieben.
Warum aber ist dann die Stimmung im Land so schlecht? Die Ursache ist dort zu suchen, wo der Kanzler und seine Regierung bislang eben nicht erfolgreich waren. Es ist nicht gelungen, das schiere Krisenmanagement um eine dem Anlass und der Dimension dieser „Zeitenwende“ angemessene Perspektive und Kommunikation zu erweitern. Das Pathos vieler Reden steht in scharfem Kontrast zur Banalität vieler Auseinandersetzungen in der Ampel-Koalition.
Die Botschaft kommt an, in einer grundsätzlich wenig veränderungsgeneigten Öffentlichkeit: Es kann um den Weltfrieden so schlimm nicht bestellt sein, wenn Raum ist für ergiebigen Streit über feministische Außenpolitik, Tempolimit oder Gendersternchen, wenn Straßenbau- gegen Energiespargesetze verhandelt werden und Landtagswahlen die politische Agenda bestimmen. Wer kann, der nutzt die Gelegenheit, seinen Einzelinteressen Gehör zu verschaffen, vielfach verstärkt durch soziale Netzwerke und Medien, skandalträchtig zugespitzt und stets mit derselben Intention: Wir! Schneller! Mehr!
Es braucht klare Orientierung
Es braucht keinen mächtigen Mantel der Geschichte, damit die Handelnden angesichts der Kleinteiligkeit ihres Tuns wie Zwerge wirken. Es ist ja nicht so, dass sie nichts getan hätten. Kaum eine Regierung vorher hat in so kurzer Zeit so viele Gesetze und Maßnahmen verabschiedet. Doch es fehlt die Orientierung, wohin das Land sich angesichts der neuen Umstände grundlegend entwickeln soll. Wo es aber an Einordnung und Priorisierung mangelt, werden vordergründig alle Probleme gleichrangig, oszillieren je nach Lautstärke und politischer Konjunkturlage um die Wahrnehmungsschwelle einer zunehmend nachrichtenmüden Öffentlichkeit.
Das Ergebnis dieser Kakophonie ist die weitverbreitete Verunsicherung und Polarisierung einer in vielfältige Interessengruppen fragmentierten Gesellschaft. Es ist die Aufgabe dieser Bundesregierung, den Menschen zu vermitteln, was dieser historische Umbruch für unsere Zukunft bedeutet.
Olaf Scholz hat sich diese Ausnahmesituation nicht ausgesucht. Aber er trägt nun die Verantwortung, so wie Helmut Kohl 1989 oder Willy Brandt zwei Jahrzehnte vorher in Zeitenwenden bestehen mussten. Und mit ihm werden auch seine Koalitionspartner an dieser Verantwortung gemessen werden.