„Paul Celan stiftet zur Erinnerung an“

Herr Sparr, der Dichter Paul Celan wäre heute 100 Jahre alt geworden. Was wünschen Sie ihm zu seinem Geburtstag? THOMAS SPARR: Ich wünsche ihm, dass er die Aufmerksamkeit, die ihm bisher weltweit zuteil wurde, behält und dass man sich immer mehr für sein Leben, seine Lebensumstände, seine Herkunft und damit für die Geschichte des 20. Jahrhunderts interessiert. Er selbst hat seine Lyrik &bdquo;Entwürfe kommender Erinnerungen“ genannt. Große Worte, aber angemessen für seine Gedichte, die von der Erinnerung handeln und zur Erinnerung anstiften. Celans Gedichte, Briefe und Gedicht-Übersetzungen anderer Dichter füllen viele Bände. Wir aber nehmen ihn vor allem als Autor der &bdquo;Todesfuge“ wahr. Er hat das Gedicht schlechthin über die Vernichtung von Juden durch die Nazis bereits 1944/45 in Rumänien geschrieben. Warum unsere Zentrierung auf dieses Werk? Es ist genau umgekehrt. Nicht wir sind auf die &bdquo;Todesfuge“ zentriert, sondern sie nimmt uns in den Blick. Es gibt einfach kein zweites Gedicht, dem es gelingt, dass Menschen es so sehr auf sich beziehen. Celan selbst indes beklagt bereits Anfang der 60er Jahre, dass man die &bdquo;Todesfuge“ &bdquo;lesebuchreif gedroschen“ habe. Warum dieses harsche Urteil? Celan hatte erlebt, wie die &bdquo;Todesfuge“, die bisher kaum einer wahrgenommen hatte, im Mai 1952, als er sie zum ersten Mal vor Autoren der Gruppe 47 in Deutschland vorgelesen hat, mit Kopfschütteln und Spott aufgenommen wurde. Einige Autoren verglichen seine Art des Vortrags gar mit dem Duktus von Goebbels. Diese Verhöhnung bei gleichzeitigem Verkennen des Inhalts hat ihn sehr verletzt und misstrauisch gemacht gegenüber der Wahrnehmung seines Gedichts in Deutschland. Und die setzte sich auch gegenüber dem später einsetzenden Hype fort. Wie sehen Sie die &bdquo;Todesfuge“? Abgedroschen ist an diesem herausragenden Gedicht, das zum kulturellen Kanon nicht nur Deutschlands, sondern der ganzen Welt gehört, überhaupt nichts. Im Gegenteil, es gibt immer noch sehr viel in ihm zu entdecken. In meinem Buch &bdquo;Todesfuge – Biographie eines Gedichts“ zeige ich zum Beispiel, welchen Einfluss die Verfolgung, die Ermordung seiner Familie in den Jahren 1944/45 auf das Gedicht hatte, die Zerstörung einer ganzen Welt. Celan selbst hat einmal gesagt: &bdquo;Ich habe nie eine Zeile gedichtet, die nicht mit meiner Existenz zu tun gehabt hätte.“ Ist wirklich alles, was er geschrieben hat, autobiografisch fundiert? Celan selbst hat einst auch formuliert: &bdquo;Geh mit der Kunst in deine allereigenste Erinnerung und setze dich frei.“ Übersetzt heißt das: Nimm meine Gedichte als etwas Existenzielles von mir wahr, aber beziehe sie zugleich auch auf deine Existenz. In diesem Sinne ist seine Dichtung autobiografisch und welthaltig zugleich. Seine Gedichte sind Lebenszeugnisse. Vielen gelten seine Gedichte als hermetisch und schwer verständlich. Auf der anderen Seite wünschte sich Celan, dass sie wie eine &bdquo;Flaschenpost“ bei den Menschen im &bdquo;Herzland“ stranden. Das geht schlecht zusammen, oder? Hermetik heißt ja nicht unverständlich, sondern lediglich schwer verständlich. In diesem Sinne schließen sich seine hermetische Dichtkunst und die Idee, seine Gedichte als Flaschenpost zu verstehen, nicht aus. Wir sollen ein fremdes Leben als fremdes wahrnehmen und nicht vorschnell verstehen, sondern uns langsam dessen Horizont erschließen. Und auch wenn sich das Verständnis beim Lesen seiner Verse einmal nicht einstellt, wird es immer wieder etwas neu zu verstehen geben. Das ist das Versprechen seiner Dichtung als &bdquo;Flaschenpost“. Wer Celans Werk entdecken möchte, sollte wo anfangen? Ich rate dazu, in seinem Werk zu stöbern und Zeilen für sich zu finden, die einen besonders ansprechen. Ich habe zum Beispiel auf diese Art und Weise seinen Vers &bdquo;Es ist Zeit, daß man weiß! Es ist Zeit, daß der Stein sich zu blühen bequemt“ aus dem Gedicht &bdquo;Corona“ bereits früh für mich entdeckt und immer auf mich und meine Existenz bezogen. In der DDR wurden die Zeilen von Menschen als Beschreibung der Lebensumstände in ihrem Land gelesen, eine Anstiftung zum Widerstand. Weite Deutungsräume machen seine Dichtung so bedeutend. Ich kann nur dazu ermuntern, die jeweils eigene Lesart der Celanschen Verse zu wagen. Wie war das Verhältnis Celans zu Deutschland? Es war schwierig. Er war, als er 1952 aus Paris erstmals nach Deutschland reiste, ein mittel- und staatenloser Flüchtling, den kaum einer kannte und der bei seiner ersten Lesung große Ablehnung erfuhr, wie schon beschrieben. Doch dort entstand auch der Kontakt, der zum Erscheinen seines ersten Gedichtbandes &bdquo;Mohn und Gedächtnis“ in Deutschland noch im selben Jahr führte. Und fortan wurde er hier zu einem sehr erfolgreichen und vielfach ausgezeichneten Dichter. Er mag sich zwar selbst weiter als randständig gesehen haben in diesem Land, er was es aber faktisch nicht. 1970 setzt er seinem Leben ein Ende. Weiß man heute mehr, was ihn dazu gebracht hat, in die Seine zu gehen? Er hat sicherlich ein Leben geführt, das im Schatten der Erfahrung der Ermordung seiner Mutter durch die Nazis und dem Typhus-Tod seines Vaters im Lager stand. Das dürfte er nie verwunden haben. Aber was ihn letztendlich bewogen hat, aus dem Leben zu scheiden, wissen wir nicht, und ich möchte ihm mit Spekulationen über seinen Suizid auch nicht zu nahe treten. Sie schreiben in Ihrem Buch bilanzierend: &bdquo;Es scheint, dass dieser Dichter etwas Inkommensurables, Geheimnisvolles behält. Zum Glück!“ Warum zum Glück? Trotz meiner intensiven Beschäftigung mit seinem Leben, seinen Lebensumständen und seinem Werk habe ich das Gefühl, bei ihm immer noch am Anfang zu stehen – eben wegen der Vielschichtigkeit und Mehrdeutigkeit seines Werks. Das genau nenne ich ein Glück. Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hat Celan kürzlich als &bdquo;Dichter Europas“ gewürdigt. Eine treffende Kennzeichnung? Ja, er verkörpert durch seine Herkunft aus der Vielsprachenstadt Czernowitz mit ihren unterschiedlichen Völkern, durch die Sprachen, die er beherrschte, durch seine Übersetzungen aus dem Englischen, Französischen, Rumänischen, Italienischen, Hebräischen und vor allem Russischen einen europäischen Dichter par excellence.

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