„1984“: Rebellion, Liebe und Hoffnung im Theater Paderborn

Paderborn. Drei Personen im Blaumann mit einer roten Schärpe, total entindividualisiert, entsteigen ihren Wohnkästen, die gerade mal so groß sind wie sie selbst. Dann folgt die tägliche Mobil- und Meinungsmache über Lautsprecher. Die Arme gehen hoch, kreuzen sich mit geballten Fäusten über den Kopf. Der Appell ans Volk ist perfekt durchritualisiert: Willkommen im totalitären Überwachungsstaat, zu dem das Studio des Paderborner Theaters wird. Schließlich geht es um George Orwells &bdquo;1984“ – allerdings in einer weitergedachten Variante. Das Konzept des Stücks &bdquo;1984 reimagined“, das jetzt Premiere hatte, wollte es nicht bei dem negativen Romanende belassen. In einem Kooperationsprojekt mit der Paderborner Heinz-Nixdorf-Gesamtschule erarbeitete Leo Kees (Regie, Bühne und Kostüme) aus Interviews und Schreibworkshops gemeinsam mit dem Team vom Jott, dem Jungen Theater Paderborn, Alternativen. Ausgänge, die spiegeln, wie junge Menschen die Vergangenheit auf die Gegenwart und die Zukunft beziehen. Diese Ausgänge, das lässt sich schon an dieser Stelle sagen, machen Hoffnung. Zunächst aber wird Orwells Düsternis im Raffer auf die Bühne gebracht. Dem Publikum wird sofort klar: Aus dem Rahmen fallen ist hier nicht möglich, vor allem aber: nicht gewollt. Immer kleiner wird der Raum, den das System – also die omnipräsente Partei – den Menschen lässt. Winston (Moritz Rauch) und Julia (Dyana Maria da Silva) arbeiten wie auch eine dritte Person Vicky (Antonia Tenbrock), um die Kees das Personal erweitert, im Ministerium für Wahrheit: Diese Bezeichnung verschweigt den echten Job – die Vergangenheit an die Gegenwart anzupassen. Seiten aus Büchern auszureißen und zu schreddern oder Artikel zu ändern, bis es dem Staat passt. Alles wird verdreht zu den drei Maximen: &bdquo;Krieg ist Frieden. Freiheit ist Sklaverei. Unwissenheit ist Stärke.“ Stellvertreter einer Masse ohne eigene Sprache Wer die Gegenwart beherrscht, beherrscht die Vergangenheit, wer die Vergangenheit beherrscht, beherrscht die Zukunft. Das Kollektiv lebt ohne Körper, Namen und Vergangenheit, eigenes Denken ist verboten. Sprache ist völlig versachlicht. Doch Winston vertraut seine Gefühle heimlich einem Tagebuch an. Und Julia gibt ihm unbemerkt einen Zettel, auf dem &bdquo;Ich liebe dich“ steht. Sie wird zu seiner Geliebten und Mitwisserin. Da Silva, Rauch und Tenbrock sind Stellvertreter einer Masse ohne eigene Sprache. Ihre Worte kommen vom Band: Teils bewegen sie nicht einmal ihre Lippen, zum Teil gibt es Playback. Tenbrock ist als Leidensgenossin dabei eher eine Art Erzählerin. Dann zieht es das Trio an einen Ort, den es für sicher hält und Automatismen weichen Emotion. Hier teilen sie sich Marmelade, &bdquo;etwas, das nach Leben schmeckt“, ziehen sich bunte Kleidung an und reden über Träume. Doch sie werden erwischt und schließlich in der Folterkammer des Staats – im berüchtigten Raum 101 – gehirngewaschen. Am Ende lieben sie nur die Partei. Weitere Stücke im Theater Paderborn: Neues Stück im Paderborner Theatertreff thematisiert Depression bei Kindern Regisseur und Schüler wählen einen optimistischeren Weg Eindringlich ist die Szene, in der Winston Julia verrät: Die Partei weiß um seine Angst vor Ratten. So wird ihm ein Käfig mit zwei ausgehungerten Nagern vor dem Gesicht befestigt und gedroht, die Käfigtür zu öffnen. Winston fleht, nicht ihn zu foltern, sondern Julia. So weit, so schlecht. Während dystopische Zukunftsgeschichten über übermächtige Konzerne, Kriege, Faschismus, Rassismus, Populismus, Egoismus, den Verlust von Empathie oder eine Künstliche Intelligenz, die das Denken übernimmt, Standard sind, wählen der Regisseur sowie die Schülerinnen und Schüler einen optimistischeren Weg. Es ist eine Art Handlungsanweisung aufgrund bestehender Parallelen zwischen Orwells &bdquo;1984“ und dem Heute. Dabei wird das Darstellertrio zu Rebellen mit je einem Vorschlag fürs Ende. In der ersten Version gelingt es Julia, der Ratte im Käfig vor ihrem Gesicht, den Kopf abzubeißen. Sie überlebt aufgrund individueller Stärke. Für die zweite Variante kommt eine Schaukel von der Decke, auf die sich Tenbrock setzt: Während sie spielerisch vor- und zurückschwingt, hält sie ein Loblieb auf die alles andere als einfache Entstehungsgeschichte der Verfassung und macht darauf aufmerksam, was deren Grundlage ist: &bdquo;Rechte sind aus Blut gemacht.“ Das Gesetz bestehe aus den Überresten derer, die für das Recht gestorben sind. Die Verfassung sei der Grund, dass &bdquo;1984“ eine Fiktion bleibt. Auch der Weihnachts-Klassiker &bdquo;Tatsächlich Liebe“ spielt eine Rolle Die dritte Version zitiert die mittlerweile unzählige Male variierte Szene aus &bdquo;Tatsächlich Liebe“: Winston-Darsteller Rauch hält beschriebene Papierkarten hoch zu allem, was wichtig ist – wie Sprache, Lachen, sich treffen, denken, Ich-sein. Mittlerweile ist eine Tür geöffnet und das Publikum sieht die Hinterräume des Theaters. Von hier schieben Tenbrock und da Silva Ständer mit bunter Kleidung auf die Bühne. Realität. Zu fetziger Musik wird wild umher gelaufen. Dann springt Rauch auf einem Trampolin und hält weitere Schilder hoch. Auf der letzten Tafel steht &bdquo;Ich liebe dich“. Und Schluss. Es wird deutlich, dass nichts 100-prozentig sicher ist – auch nicht die Demokratie – und es sich zu kämpfen lohnt für all das, was wir lieben. Vom Publikum gab es für diese Hoffnung machende Inszenierung langen und lauten Applaus. Sieh dir diesen Beitrag auf Instagram an Ein Beitrag geteilt von Theater Paderborn (@theaterpaderborn) Noch mehr Orwell im Paderborner Theater Das Stück &bdquo;1984 reimagined“ ist für Jugendliche ab 14 Jahren geeignet. Weitere Aufführungen sind am 5., 21. und 26. Juni sowie 5. und 11. Juli. Karten sind an der Theaterkasse am Neuen Platz unter Tel. 05251 2881100 und per E-Mail an kartenservice@theater-paderborn.de erhältlich. Die Schulvorstellungen sind bereits restlos ausverkauft. Auch in der nächsten Spielzeit wird ein Orwell-Klassiker auf der Paderborner Bühne zu sehen sein: Ab August wird im Großen Haus eine Variation von &bdquo;Farm der Tiere“ inszeniert. Immer informiert bleiben: Hier gelangen Sie direkt zum Whatsapp-Kanal der NW Paderborn.

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