Paderborn als Paradebeispiel für Innovationen: Stadtentwicklung im Mittelalter

Paderborn. Der langjährige Kaiserpfalz-Direktor Matthias Wemhoff hat ein Buch über die Stadtentwicklung im Mittelalter geschrieben. Paderborn spielt darin eine Hauptrolle als Paradebeispiel dynamischer Transformationen – von der Königsgründung im wilden Sachsen zur von Kaufleuten geprägten Bürgerkommune. &bdquo;Gründerzeit 1200 – Wie das Mittelalter unsere Städte erfand“ ist der Titel des bereits nach wenigen Wochen in dritter Auflage vorliegenden 450-Seiten-Werks. Wemhoff hat es zusammen mit der ZDF-Historikerin Gisela Graichen verfasst. Beide stützen sich auf jüngere und jüngste Befunde der Mittelalter-Archäologie, die in dieser Zusammenschau ein faszinierendes neues Bild der Stadtentwicklung geben, dass ohne archäologische Befunde so nicht gezeichnet werden könnte. Die Zeit um 1200 ist die Ära der großen Kathedralen und Klostergründungen. Es ist auch die Zeit technischer Innovationen von Uhrwerk, Kompass, Brille oder Chirurgenbesteck. &bdquo;Wie ein Orkan fegte die junge, die moderne Zeit durch die Welt des Mittelalters“, schreiben Graichen und Wemhoff. Überall sind kreative Köpfe gefragt. Sicherung der neuen Stadt Die Autoren zeigen, wie die Stadtplaner jener Zeit versuchen, sie anzulocken. Dazu bauen sie eindrucksvolle, von Friedhöfen umgebene Kirchen, siedeln geistliche Gemeinschaften an und sichern die neue Stadt mit einer Befestigung. Doch auch bezahlbarer und gut gelegener Wohnraum ist gefragt. Der Lübecker &bdquo;Baulöwe“ Heinrich der Löwe wirbt um Neubürger, in dem er Baugebiete parzellieren und schlüsselfertig mit vorgefertigten Holzbauteilen bebauen lässt. In der Hansestadt, wo die Archäologen diese systematische Baupolitik erst vor einigen Jahren entdeckten, hat man nebenbei aus Latrinen-Inhalten auch die Speisepläne gründerzeitlicher Kaufleute rekonstruiert – kaum Schweinefleisch, viel Geflügel, Süß- und Salzwasserfisch, erstaunliche exotische Früchte und Gewürzmischungen vom Feinsten. Wemhoffs und Graichens Buch ist voll von solchen süffigen Details. Ihre Städtetour zu Standorten der &bdquo;urbanen Revolution“ des Mittelalters führt von seit der Antike bestehenden Orten (Mainz, Trier, Köln) zu den Bistumsgründungen der Karolinger (Paderborn, Hildesheim, Münster, Hamburg) und zu den kompletten Neugründungen des 12. Jahrhunderts (Lübeck, Freiburg, Lippstadt, Berlin). Paderborn wurde die Stadt der Kaufleute Das Autorenteam zeichnet die Anfänge einer städtischen Gesundheitsvorsorge, der Ver- und Entsorgung sowie eines frühen städtischen Umweltmanagements nach. Sie zeigen, wie Stadtgründer sich um die Ansiedlung jüdischer Händler bemühten und sie und ihre Synagogen daher oft im Zentrum ansiedelten – ihre Weltgewandtheit war bekannt und als Erfolgsfaktor begehrt. Als Paderborn in der &bdquo;Gründerzeit“ um 1200 zur Stadt für Kaufleute wurde, hatte der Ort bereits mehrere Innovationsschübe hinter sich. 400 Jahre vorher hatte der vom römischen Reich träumende Karl hier in zwei Bauphasen mitten im frisch eroberten Sachsen an den Paderquellen einen Königs- und Bischofssitz errichten und flüchtig befestigen lassen. Doch Handwerker und Kaufleute lebten und handelten noch &bdquo;dezentral“ außerhalb der Domburg. 200 Jahre später nutzt ein innovativer Reichsbeamter mit Visionen, Bischof Meinwerk, ein Momentum und schafft seinem König Heinrich II für dessen Auftritte eine eindrucksvolle Bühne: Pfalz und Dom entstehen nach Abriss größer und prachtvoller neu; Klosterbauten kommen dazu, ein &bdquo;christlicher Kosmos aus Stein“ nimmt Gestalt an. Der Oberhirte selbst baut sich eine Bischofspfalz Meinwerk holt Baumeister aus Byzanz und schickt einen Vertrauten nach Jerusalem, der den Grundriss der Grabeskirche nachzeichnet und dessen Verwendung für den Bau des Bußdorfstifts ermöglicht. Zugleich löst sich die Wohngemeinschaft des Domkapitels auf. Der Oberhirte selbst baut sich eine Bischofspfalz nur für ihn; die Kleriker erhalten eigene rechteckige Steinbauten (Kurien) in der östlichen Domburg. Doch auch in diesem Paderborn spielen die Bauten der Kaufleute und Handwerker noch keine nennenswerte Rolle. Ihre Stunde schlägt erst ab der Mitte des 12. Jahrhunderts. Immer informiert bleiben: Hier gelangen Sie direkt zum Whatsapp-Kanal der NW Paderborn. Angesichts verbesserter Ernährungslage und wachsender Bevölkerung bemüht man sich jetzt überall um Kaufleute und fähige Handwerker. Und diese haben Ansprüche. Dafür ist die alte befestigte Domburg zu klein. Die noch heute sichtbare Stadtmauer entsteht und es wird so viel gebaut, dass, wie die faszinierenden Paderborner Ausgrabungen gezeigt haben, auch die nur teilweise wieder zugeschütteten Steinbrüche rund um die alte Domburg für Gebäude genutzt werden. Nutzung eines Steinbruchs als Baugebiet Auf einer Lehmschicht in sechs Meter Tiefe entsteht in der Grube eine Kaufmanns-Siedlung mit Fachwerkhäusern nebst Lagergebäuden aus Stein. Direkt am schmalen Zugang zum Tor der Domburg wird die bauliche Herausforderung besonders sichtbar: Hier entstand ein mächtiges Steinhaus, dessen Rückseite zwei Etagen tief in der Grube steht. Und vor dem Abdinghof schaffen die dortigen Benediktiner am Rand ihres Areals eine zusätzliche Bauzeile in begehrter Lage, deren Verpachtung ihnen bis in die Neuzeit lukrative Einnahmen bot. Die kühne Nutzung eines Steinbruchs als Baugebiet ist eher Paderborn-spezifisch. Doch Grundzüge der Paderborner Entwicklung zur Bürgerstadt finden sich in vielen anderen Bischofsstädten wieder. Paderborn hat dabei den Vorteil, dass hier seit Jahrzehnten großer Wert auf gute Arbeitsbedingungen für Archäologen gelegt wird. Und so spielt Paderborn in diesem Buch eine Hauptrolle als Bindeglied zwischen den Städten mit römischen Wurzeln und den Neugründungen der Zeit um 1200. Man merkt der Lektüre von &bdquo;Gründerzeit 1200“ die Medienerfahrung der Autoren an, die sich über die ZDF-Wissenschaftsserie Terra X kennengelernt haben. Selten ist über archäologische Forschung so anschaulich und unterhaltsam geschrieben worden. Matthias Wemhoff/Gisela Graichen: Gründerzeit 1200 – Wie das Mittelalter unsere Städte erfand, Prophyläen-Verlag, 29,80 Euro

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