Sorge vor "Trostpflasterabi": Mehr Einser-Zeugnisse an Paderborner Schulen?

Paderborn. Immer mehr Schülerinnen und Schüler schließen ihr Abitur mit der Spitzennote 1,0 ab. Und auch die Zahl der Abinoten mit einer Eins vorm Komma wächst. Der Vorsitzender der Landesrektorenkonferenz der Universitäten, Johannes Wessels, blickt dieser Entwicklung mit Sorge entgegen."Wir sehen, dass sich Standards verschieben, ohne, dass die Leute wirklich besser sind", sagt er. Die Gymnasien und Gesamtschulen in Paderborn haben nicht nur Verständnis für diese Kritik. Laut Statistik der Kultusministerkonferenz machten in NRW im vergangenen Jahr 2.436 Schülerinnen und Schüler das Abitur mit der Bestnote 1,0. Das sind 3,2 Prozent aller Abiturientinnen und Abiturienten. 2019, also vor der Corona-Pandemie, waren es noch 1,9 Prozent. Das entspricht einer Zunahme von etwa 68 Prozent. Am Gymnasium Schloß Neuhaus gab es 2022 tatsächlich mehr Abitur-Zeignisse mit dem Spitzenschnitt von 1,0 als in den Vorjahren. "Insgesamt lag die Quote bei sieben Prozent. Sonst war es immer ein Wert zwischen 1,1 und 3,8 Prozent", sagt Schulleiterin Eva Sprenger. Zeitgleich habe sich jedoch auch die Quote der sogenannten "Durchfaller" erhöht. Sprenger sieht die Gründe in der Pandemie. "Es gibt jene, die durch die Krise noch fleißiger und selbstständiger geworden sind, und andere, die nicht mehr hinterhergekommen sind." "Kompetenzen verschieben sich" Die höhere Einserquote erklärt sich die Schulleiterin außerdem durch die Fokussierung auf Abitur-Inhalte. "Lehrerinnen und Lehrer bereiten Schülerinnen und Schüler genauer auf Prüfungsinhalte vor. Dadurch wird weniger in die Breite gegangen", erklärt Sprenger. Die Schüler würden so vor allem das lernen, was sie in den Klausuren auch brauchen. "Dabei kommt es natürlich zu einer Verschiebung von Kompetenzen", so die Schulleiterin. Die Sorge des Vorsitzenden der Landesrektorenkonferenz der Universitäten, dass ganze Standards sich verschieben würden und die Bildungsqualität nicht zunehmen würde, teile sie so jedoch nicht. "Die Medienkompetenz ist zum Beispiel enorm gewachsen. Die Schüler heute können halt was anderes, das muss nicht zwangsläufig schlechter sein", sagt Sprenger. Dennoch sieht sie in einigen Fachbereichen auch Defizite. "Gewisse Kernkompetenzen wie Rechtschreibung oder auch mathematische Grundkenntnisse müssten sicher gestärkt werden." Laut Hartwig Kuhlmann, Oberstufenkoordinator der Gesamtschule in Paderborn-Elsen, schwanke der Anteil von Abinoten mit der Eins vor dem Komma um die zwölf Prozent. Abiturientinnen und Abiturienten mit der Bestnote 1,0 gebe es, seien aber eher die Ausnahme. Auch bei dem Durchschnitt aller Abinoten sehe er keine Tendenz nach oben, sondern eine Schwankung um den Mittelwert 2,66. "Wir Gesamtschulen schöpfen natürlich auch aus einer anderen Schülerpopulation. Wir haben auch Schüler mit Realschulempfehlung, die bei uns das Abitur machen", erklärt der Oberstufenkoordinator. An der Aussage, dass sich Standards verschieben würden, sei aus seiner Sicht etwas dran. "Wenn der Anteil an Schülerinnen und Schülern mit einer Eins vorm Komma zunimmt, dann sind vermutlich auch die Standards anders", sagt er. Es sei politisch gewollt, dass mehr Leute Abitur machen. "Auch vor dem Hintergrund des Fachkräftemangels brauchen wir mehr qualifizierte Arbeitskräfte", sagt Kuhlmann. "Von Schülern wird viel verlangt" Den generell erhöhten Anteil von Einser-Abis erkläre er sich ebenfalls durch den Fokus auf Prüfungsinhalte durch das Zentralabitur. Doch: "Die Bildungsqualität kann man nicht am Zentralabitur festmachen", sagt er. Die zentralen Vorgaben seien wichtig, um Standards vergleichbarer zu machen. Am Paderborner Goerdeler-Gymnasium liegt der Anteil der Einser-Abis zwischen 1,0 und 1,9 bei 20,25 Prozent, wie Leiterin Manuela Ziemer auf Nachfrage angibt. Dieser Prozentsatz sei in den vergangenen fünf Jahren konstant geblieben. Sie habe nicht den Eindruck, dass Standards nicht gehalten werden könnten oder die Bildungsqualität abnehmen würden. "Von den Schülerinnen und Schülern wird heutzutage viel verlangt. Die gehen ihren Weg und lernen viel", sagt Ziemer. Auch die Vermittlung einer selbstständigen Arbeitsweise sowie einer guten Allgemeinbildung würde trotz Vorbereitung auf Prüfungsinhalte viel Wert gelegt werden. "Wir lesen klassische Lektüren im Deutschunterricht, diskutieren über aktuelle politische Geschehnisse und behandeln im Geschichtsunterricht das 19. und 20 Jahrhundert, das ist Allgemeinbildung", sagt sie. Verschiebung von Standards möglich Am Pelizaeus-Gymnasium in Paderborn habe sich der Anteil an Einser-Abinoten in den vergangenen fünf Jahren innerhalb normaler Schwankungen auf gewohntem Niveau befunden. Dies teilte Schulleiter Peter Lütke Westhues auf Anfrage mit. Die Präsidentin der Universität Paderborn, Birgitt Riegraf, bezeichnet die Zunahme der Spitzennoten im Abitur während und nach der Pandemie als "in der Tat sehr auffällig". Bislang sei es allerdings aus ihrer Sicht schwer, die Gründe festzumachen. "Die Ursachen könnten tatsächlich sehr unterschiedlich sein: Sie mögen von einer milderen Bewertung aufgrund der Corona-Krise bis hin zu einer Leistungssteigerung aufgrund fehlender oder ausgefallener Freizeitangebote reichen. Vermutlich liegt den beobachteten Notensteigerungen eine Mischung unterschiedlicher Ursachen zugrunde." Die Entwicklung sei daher zu beobachten. "Sollten die Ursachen für die besseren Leistungen in einem &bdquo;Trostpflaster-Abitur“ liegen, und nicht in einer tatsächlichen Verbesserung der Kompetenzen, dann ist dies in der Tat problematisch und es könnte zu einer Verschiebung von Standards führen", lautet Riegrafs Urteil.

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