Sozialreform "System wurde nicht abgeschafft": Paderborner Verein kritisiert Bürgergeld

Paderborn. Ab Januar soll Hartz-IV Geschichte sein. Die Regierungskoalition aus SPD, Grünen und FDP sowie die CDU haben sich auf einen Kompromiss bei der Einführung des Bürgergelds geeinigt. Wenn Olaf Mittelstädt, Vorsitzender des Vereins Paderborner Arbeitslosenzentrum (PadAlz), dem Gesetz eine Schulnote geben müsste, wäre es die Sechs: ungenügend. "Der Begriff wurde abgeschafft, aber nicht das System", kritisiert er. Die SPD sei angetreten mit dem einzigen Ziel, Hartz IV abzuschaffen, "egal zu welchem Preis". Das Bundesministerium für Arbeit und Soziales, das unter Führung von Hubertus Heil (SPD) das Bürgergeld erarbeitet hat, dagegen schreibt auf seiner Homepage, dass die Reform "im Leben der Menschen zu spürbaren Veränderungen führen" würde. Das Bürgergeld eröffne Chancen, weil es nicht mehr nur darum gehe, Arbeitslose in Jobs zu vermitteln, sondern Aus- und Weiterbildungen im Mittelpunkt stünden. Das sei aber nicht neu, kontert Mittelstädt, denn das Instrument der Weiterbildung habe es auch bei Hartz IV gegeben. "Das war immer eine Frage der Gewichtung, wie viel man fördert und wie viel man fordert." Ehrlicherweise müsse man auch sehen, dass viele Langzeitarbeitslose wohl nicht zu Fachkräften ausgebildet werden könnten. Für diese Menschen wäre eher der Mindestlohn ein Anreiz, Jobs etwa in der in Paderborn wachsenden Logistikbranche anzunehmen, glaubt Mittelstädt. Lohnt sich Arbeit noch? Durch das Hartz-IV-System sei ein riesiger Niedriglohnsektor entstanden, viele erhalten als Aufstocker Hilfe vom Staat. Wer Vollzeit arbeitet, aber nur Mindestlohn verdient, müsse zusätzlich Kinderzuschlag und Wohngeld beantragen, um überhaupt mehr Geld zu bekommen als durch das Bürgergeld. So mache man Arbeitende zu Bittstellern, kritisiert Mittelstädt. Lohnt sich Arbeit mit dem Bürgergeld also nicht mehr? Der PadAlz-Vorsitzende betont: "Der Lohn ist zu niedrig, nicht die Sozialleistungen." Tatsächlich stimme er aber einem Vorschlag zu, den der Paderborner CDU-Bundestagsabgeordnete Carsten Linnemann kürzlich in der Polittalkshow "Anne Will" machte: Wer 40 Wochenstunden arbeite, aber unter einem bestimmten Verdienst liege, solle automatisch eine Steuergutschrift in Höhe von Wohngeld und gegebenenfalls Kinderzuschlag bekommen, statt diese extra beantragen zu müssen. Viele Menschen, die Anspruch auf die Unterstützung hätten, würden diese - aus Scham oder Unwissen - nicht in Anspruch nehmen, weiß Mittelstädt aus zahlreichen Beratungsgesprächen. Lesen Sie auch: Paderborner Jobcenter-Chefin zum Bürgergeld: Sanktionen schaffen Verbindlichkeit Bei der Debatte ums Bürgergeld stören ihn besonders die vielen - in seinen Worten - "Scheindiskussionen". Vielfach hätte sich ein mit Vorurteilen behaftetes Bild von Arbeitslosen gezeigt: das des faulen Taugenichtses, der sich auf Kosten des Steuerzahlers ein entspanntes Leben macht. Dazu gehört etwa die Diskussion um Sanktionen, auf die besonders die CDU gedrängt hatte. In Paderborn gebe es damit kein Problem, insgesamt würden nur in ganz wenigen Fällen Leistungskürzungen angewendet, so seine Erfahrung. Kurzfristige Einführung des Bürgergeldes als Herausforderung Als weiteres Beispiel nennt Mittelstädt das Schonvermögen: Wer das Bürgergeld bekommt, muss künftig Vermögen erst dann einsetzen, wenn es mehr als 40.000 Euro (bei Alleinstehenden) beträgt. So viel Geld hätte aber seiner Erfahrung nach nur ein Bruchteil der ALG-II-Empfänger, die ja bereits ein Jahr arbeitslos sind und einen großen Teil des Ersparten aufbrauchen würden, um ihren Lebensstandard zu halten. Einen positiven Aspekt allerdings findet Mittelstädt dann doch an der Reform: So werden die Freibeträge für Einkommen von Schülern, Studierenden und Auszubildenden bis zur Minijob-Grenze von derzeit 520 Euro erhöht. Das sei wichtig, denn es sei "absolut frustrierend, wenn ein Jugendlicher zum Beispiel eine Ausbildung macht und dann sein gesamtes Gehalt abgeben muss", berichtet Mittelstädt, "da knallt es in einigen Familien auch richtig". Eine Herausforderung stelle die kurzfristige Einführung dar. Schon in rund fünf Wochen tritt die Neuregelung in Kraft. Vieles ist unklar, etwa wie die einzelnen Regelungen in der Praxis zur Anwendung kämen. Bislang halte sich der Beratungsbedarf im Arbeitslosenzentrum noch in Grenzen. "Viele haben die Hoffnung, dass es jetzt besser wird", weiß Mittelstädt aus Gesprächen. Er selbst glaubt nicht daran.

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