Armut in Paderborn: "Die Verteilungskämpfe gehen schon los"

Paderborn. "Hungern muss in Paderborn niemand." Davon ist Jürgen (Name geändert) überzeugt. Viele Möglichkeiten gebe es in der Stadt, um ein kostenloses Mittagessen oder eine warme Mahlzeit zu bekommen - zum Beispiel bei der Padermahlzeit oder bei der Bahnhofsmission. Auch Jürgen nutzt das. Er ist arm. Aber ein wahrer Überlebenskünstler. In letzter Zeit habe er bemerkt, dass der Andrang bei diesen Angeboten immer größer wird. Besonders in der zweiten Monatshälfte, wenn bei vielen das Geld knapp wird. "Ab dem 15. wird es richtig voll. Zuletzt waren oft so viele Leute da, dass es keinen Nachschlag mehr gibt, das war früher immer drin", sagt er. Weil er seit vielen Monaten aus gesundheitlichen Gründen nicht arbeiten kann, stehen ihm nicht mehr wie früher, als er im Straßen- und Gartenbau gearbeitet hat, rund 1.000 Euro, sondern nur noch etwa 600 Euro zur Verfügung. Der 50-Jährige wohnt auf einem Campingplatz. Seinen Wagen heizt er mit Strom - 110 Euro soll er dafür jetzt zahlen. "Man kommt so durch", sagt er. Er habe schon mal auf der Straße gelebt, er komme klar. Wichtig ist ihm, seiner Tochter zu Weihnachten ein Geschenk machen zu können. "Dann esse ich lieber weniger. Und rauche weniger, das ist sowieso gesünder." "Dann bleibt ja noch weniger Geld zum Leben" Die massive Erhöhung ihrer Energiekosten macht auch Sonja (Name geändert) aus Paderborn zu schaffen. Sie lebt von einem 450-Euro-Job und bekommt eine kleine Erwerbsminderungsrente. "Im Winter heize ich nur im Wohnzimmer, zur Not schlafe ich da", so ihr Plan. Angst hat sie, dass der Winter so kalt wird wie vor zwei Jahren und es eine saftige Nachzahlung gibt. "Dann müsste ich die Rechnung abstottern, aber dann bleibt ja noch weniger Geld zum Leben", sagt die 33-Jährige. Schon jetzt dreht sie jeden Cent um. "Jedes Mal, wenn ich einkaufen gehe - das passt vorne und hinten nicht." Auch sie nutzt die Hilfsangebote in Paderborn: geht zur Tafel, bekommt bei der Padermahlzeit ein warmes Essen, bei der Bahnhofsmission eine Tasse Kaffe und ein offenes Ohr. Für ihre zwei Kaninchen, an denen ihr Herz sehr hängt, geht sie zur Tiertafel. "Früher hat die Streu 1,35 Euro gekostet, jetzt sind es fast drei", erzählt sie. Gemüse für die Tiere versuche sie, auf dem Balkon selbst anzubauen. Die Tiere abgeben, ist keine Option. "Oder nur die allerletzte Option", schiebt sie hinterher. Ins Kino würde Sonja gerne mal wieder gehen. Oder sich ohne groß nachzudenken unterwegs einen Döner gönnen. "Aber ich überlege dann jedes Mal: Brauchst du das wirklich? Und koche dann lieber zuhause, weil es günstiger ist". Mit Gelegenheitsjobs was dazu verdienen Wer in Deutschland - aus welchen Gründen auch immer - nicht 40 Stunden in der Woche arbeiten kann, ist schnell davon bedroht, in Armut abzurutschen. Die massiven Preissteigerungen der vergangenen Monate bedrohen inzwischen auch Menschen im Niedriglohnsektor, Alleinerziehende und Ältere mit geringer Rente, hat Nicole Wiggers, Sprecherin des Runden Tisches Armut beobachtet. Jürgen verdient sich ab und zu durch Gelegenheitsjobs etwas dazu. Unter der Hand. Außerdem geht er containern. "Es ist Wahnsinn, was da weggeworfen wird", sagt er. Lebensmittel aus den Abfallcontainern von Supermärkten mitzunehmen, ist in Deutschland verboten. "Aber die Polizei lässt es zu, weil sie wissen, dass die Leute sonst klauen", glaubt Jürgen. Es gibt Menschen, die haben mehr als genug Geld. Es müsste nur gerechter verteilt werden, findet er und fürchtet den sozialen Sprengstoff der aktuellen Krisen. "Bei den Flaschensammlern gehen schon die Verteilungskämpfe los." Wenn der SC Paderborn spielt, kämen sie inzwischen sogar aus Soest angereist. Solidarität spürbar: Energie-Geld spenden Die zunehmende Armut spürt auch Sabine Bergmaier, Leiterin der Bahnhofsmission: "Es kommen mehr Menschen." Darunter auch Frauen aus der Ukraine, aber vermehrt auch Menschen aus dem Niedriglohnsektor. Also Menschen, die eigentlich Arbeit haben, bei denen das Geld aber dennoch nicht ausreicht. "Wir machen keine Unterschiede, wir verteilen, was da ist", sagt Bergmaier deutlich. Was zurzeit zu beobachten sei, "ist erst die Spitze des Eisbergs", fürchtet sie. Richtig ernst werde es im nächsten Jahr, wenn die Nachzahlungen für Strom und Gas anstehen. Dennoch sei Solidarität spürbar: So gebe es auch weiterhin viele Menschen, die zu Spenden bereit seien - etwa Sachspenden, oder die die 300 Euro Energiegeld spenden, weil sie selbst nicht darauf angewiesen sind. Darüber freut sich die Bahnhofsmission ebenso wie die anderen Träger des Runden Tisches Armut (siehe Infokasten). Bergmaier: "Solange es noch Menschen gibt, die sich für andere einsetzen und engagieren, haben wir Hoffnung." Lesen Sie auch aus der Serie "Armut in Paderborn": Interview: &bdquo;Preissprünge führen zu extremen psychischen Situationen“ Arm im Alter: Seniorin verbringt "schlaflose Nächte wegen der Gasrechnung" Der Armut entfliehen: Teilzeitausbildung als letzte Chance für Alleinerziehende

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