Ungewöhnliches Doppel: Nobelpreisträgerin trifft auf Paderborner Künstlerin

Paderborn-Schloß Neuhaus. Ein Stück Lebensgeschichte in poetischen Mini-Werken einer Literaturnobelpreisträgerin und 50 Jahre Collagenkunst rund um die klassische Moderne: Die Städtische Galerie in der Reithalle Schloß Neuhaus wird zum Schauplatz eines spannenden Experiments. In der Ausstellung "Prinzip Moderne" trifft ab Sonntag, 19. Juni, die Autorin Herta Müller auf die aus Paderborn stammende Künstlerin Ella Bergmann-Michel. Paderborns Museums- und Galerieleiterin Andrea Brockmann betont, dass es ihr nicht um eine kunsthistorische Gegenüberstellung und Vergleich gehe. Frech und provokant sei es aber vielleicht. Sind die beiden Herangehensweisen an Collagen und ihre Ästhetik doch komplett unterschiedlich. Herta Müller erschafft seit 1989 Collagen aus Text und Bild. Wie Brockmann sagt, sei sie durch Grußpostkarten zu dieser Technik gekommen. Da diese ihr nicht gefallen hätten, machte sie kurzerhand eigene. Schon in mehreren Bänden hat sie gesammelte Collagen veröffentlicht. Die ihrem Ausstellungsteil den Titel leihende Veröffentlichung "Der Beamte sagte" von 2021 ist jedoch erstmals eine Erzählung mit inhaltlich zusammenhängenden Collagen. Diese Collagen-Erzählungen sind in dieser Form und nach der Premiere in der Schweiz erstmals in Deutschland zu sehen. Möglich wird dies durch einen privaten Kontakt Brockmanns zu Müller über den Literaturkreis in Schmallenberg, wo sie früher Museumschefin war. Arbeiten am Hackbrett, Tisch und Wortschrank In der Schnipsel-Poetik der Nobelpreisträgerin von 2009 ist jedes Wort überlegt: jede Größe, Typografie und Farbigkeit, alles bestimmt die Textkomposition. Zur Ausstellung gehört auch ein Tisch mit Schnipseln. Ein Tisch, wie jener, auf dem Müller zeitweise ihre Minifragmente sammelte und sichtete. Anfangs hat sie auf einem Hackbrett ausgeschnitten und geordnet, heute hat sie einen Schrank mit alphabetisch sortierten Wörtern. "Der Beamte sagte" ist ein Teil von Müllers eigener Geschichte: Nachdem sie 1987 aus Rumänien in die Bundesrepublik Deutschland ausreiste, musste sie eineinhalb Jahre im Auffanglager Nürnberg-Langwasser leben, bis sie ihren deutschen Pass erhielt. Verhöre von Beamten, Absurdität und Spießigkeit prägten diese Zeit. Dicht an dicht gehängt ergeben die Collagen einen Zusammenhang, der die grotesk-bedrohliche Lagerbürokratie deutlich macht. Zu sehen sind 140 Seiten. Dada, Surrealismus und Bauhaus Die Bergmann-Michel-Abteilung in der oberen Etage hat ihren Titel von dem gleichnamigen Bild "Menschen mit Kopf sind selten". Es ist ein Beispiel für die Vielschichtigkeit im Werk der 1895 in Paderborn geborenen Künstlerin, die fürs Studium 1917 nach Weimar ging. Titel und Teile sind auch ein Kommentar auf die Zeit nach dem Ende des Ersten Weltkriegs. Deutlich sind ihre Anfänge in Dada und Surrealismus, mit Schnibbeleien aus Zeitungen, Büchern, aber auch Holzstückchen, die sich zu Neuem zusammenfügen. An der Kunstschule in Weimar lernt sie auch ihren späteren Ehemann Robert Michel kennen - genau wie das Bauhaus, zu dem sie 1919 findet. Allerdings wird ihnen das Bauhaus zu akademisch, weshalb sie in den Taunus ziehen, wo Robert Michel eine Mühle geerbt hat. In den 20er Jahren wurde Bergmann-Michels Schaffen zunehmend konstruierter und von Geometrie und Technik dominiert. Biomorphe Formen und das Zusammenführen von organischen und anorganischen Strukturen prägten die 30er Jahre. Die erste Grafik Während der NS-Zeit wurde das Paar mit einem Ausstellungsverbot belegt. Schon vorher hatte sich Bergmann-Michel Fotografie und Film zugewandt. Einen großen Schnitt bilden die Klebebilder der 60er, für die sie verschiedene Papiere zu Gesamtkompositionen zusammenfügte. Später auch mit gezeichneten Linien, die ihr jedoch nicht exakt genug waren. Weshalb sie überging zu Fadencollagen mit einer für sie zufriedenstellenden Linearität. Die ausgestellten Arbeiten stammen zum Großteil aus der eigenen Paderborner Sammlung, der Rest ist aus dem Nachlass, den eine Galerie in Paris verwaltet. In den Besitz von 42 Arbeiten Ella Bergmann-Michels und 93 Arbeiten Robert Michels kam die Stadt 1978. Für sie existiert ein Extra-Depot. Mit eigenen Mitteln und finanzieller Unterstützung des Freundeskreises Städtische Galerien Paderborn konnte zuletzt Bergmann-Michels Arbeit "o. T. (Aufruhr)" angekauft werden. Der Holzschnitt ist die erste Grafik im Besitz der städtischen Sammlung. Szenischer Vortrag und Lesung Zur Eröffnung von "Prinzip Collage" am Sonntag, 19. Juni, um 11.30 Uhr im Audienzsaal des Neuhäuser Schlosses wird die Schauspielerin Gesa Köhler Textcollagen von Herta Müller szenisch vortragen. Im Gespräch mit der Schwiegertochter von Ella Bergmann-Michel nähert sich Museumschefin Brockmann dem Leben und Werk der Avantgardekünstlerin. Am 3. Juli wird Herta Müller aus "Der Beamte sagte" vorlesen. Die Ausstellung ist bis zum 18. September immer dienstags bis sonntags von 10 bis 18 Uhr geöffnet.

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