Gewerkschafter Carmelo Zhangi im Interview: "Jetzt geht es um die Therapie"

Paderborn. Die Wirtschaft ächzt unter dem Corona-Shutdown – einige Branchen mehr, andere weniger. Tausende Arbeitsplätze stehen auf dem Spiel. Am &bdquo;Tag der Arbeit" 2020 blicken diesmal besonders viele Arbeitnehmer mit Sorgen in ihre Zukunft. Anlass genug, mit einem heimischen Arbeitnehmervertreter aus einer der besonders stark gebeutelten Branchen zu sprechen. Carmelo Zanghi (64), gelernter Betriebsschlosser, ist als 1. Bevollmächtigter und Geschäftsführer seit 2008 Chef der IG Metall in Paderborn mit ihren aktuell rund 11.000 Mitgliedern. Herr Zanghi, dieser 1. Mai ist ein ganz besonderer. Zum ersten Mal seit der Gründung des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB) 1949 wird es keine Kundgebungen auf öffentlichen Plätze geben, sondern nur online, im Internet. Wie sieht dieser 1. Mai für Sie persönlich aus? Carmelo Zanghi: Die letzten 48 Jahre habe ich den 1. Mai immer auf Kundgebungsplätzen, mit Kolleginnen und Kollegen und starken gewerkschaftlichen Aktionen erlebt. Davon die letzten 30 Jahre hier in Paderborn. Dieses Jahr findet der 1. Mai für uns vor dem Display statt: Gemeinsam mit meiner Lebensgefährtin werde ich schon morgens die örtlichen 1. Mai-Videos und Livestreams gucken. Ab 11 Uhr gibt es die zentrale Liveübertragung des DGB-Bundesvorstandes. Besonders freue ich mich auf die Videobotschaften unseres Bürgermeisters Michael Dreier und unseres IG Metall-Kollegen und NRW-Arbeitsministers Karl-Josef Laumann. Karl-Josef wollte eigentlich als Festredner nach Paderborn kommen. Sie vertreten als IG-Metall-Chef in der Region Paderborn Arbeitnehmer in einer Schlüsselbranche des produzierenden Gewerbes, der Zuliefer-Industrie für den Automobilsektor mit insgesamt mindestens 7.000 Arbeitsplätzen. Wie hart ist diese Branche im Raum Paderborn von der Corona-Krise getroffen? Wurden deshalb schon Leute entlassen? Wie hoch ist der Anteil an Kurzarbeit? Und wie ist gerade die Stimmung der Beschäftigten?Zanghi: Weil die großen Automobilhersteller die Produktion abrupt gestoppt haben, ist die Krise mit kurzer Verzögerung in Paderborn durchgeschlagen. Und zwar in voller Härte. Ich freue mich, dass unsere Betriebsräte die Stammbelegschaft vollständig an Bord halten konnten. Durch intelligente Kurzarbeitsvereinbarungen und die Nutzung der tarifvertraglichen Möglichkeiten. Der Arbeitsplatzabbau betrifft aktuell die Kolleginnen und Kollegen in der Leiharbeit. Der Anteil an Kurzarbeit ist differenzierter zu betrachten. In den unmittelbaren Zuliefererunternehmen gehen wir von einem Kurzarbeitsanteil von insgesamt 50 bis 60 Prozent aus. In bestimmten Werken ist aktuell fast 100 Prozent der Belegschaft in Kurzarbeit. Die Angst um den Arbeitsplatz ist sehr ausgeprägt. Deshalb haben wir in dem kurzfristigen &bdquo;Krisentarifabschluss" großen Wert darauf gelegt, die Beschäftigungssicherheit zu stärken, soziale Härten zu lindern und Familien zu entlasten. Nach der Krise haben es sich die Beschäftigten verdient, dass die großen Umwälzungen in der Industrie mit ihnen und fair gestaltet werden. Digitalisierung und Energiewende sind durch Corona nicht vom Tisch. Aktuell fahren die großen Automobilproduzenten ihre Produktion wieder hoch. Hat das sofort Auswirkungen auch auf die heimischen Zulieferer oder können diese womöglich noch gar nicht entsprechend agieren, weil wiederum ihre Zulieferer im Ausland noch nicht so weit sind?Zanghi: Zuerst einmal muss es darum gehen, den Infektionsschutz und die Arbeitssicherheit sicherzustellen. Die Arbeitgeber müssen hier ihrer gesetzlichen Pflicht nachkommen. Mit unseren Betriebsräten tun wir alles, um die notwendigen Maßnahmen einzufordern. Darüber hinaus gehe ich davon aus, dass wir trotz des Hochfahrens der Automobilindustrie weiterhin stark von Kurzarbeit in unseren Zuliefererbereichen betroffen sein werden. Unsere Industrie ist angeschlagen und darf jetzt nicht ins Straucheln geraten. Halten Sie die Maßnahmen, die bisher von der Regierung und den Unternehmen ergriffen wurden, nämlich vor allem auf das Instrument Kurzarbeit zu setzen, für ausreichend?Zanghi: Als schnelle Medizin waren die Maßnahmen richtig. Jetzt geht es um die Therapie. Dafür müssen die schon begonnenen Veränderungsprozesse durch massive Zukunftsinvestitionen neu angeregt werden. Für die digitale und ökologische Transformation brauchen wir ein intelligentes Konjunkturpaket. Schon in der Vergangenheit haben wir als IG Metall auf Entwicklungsprojekte mit IT’s OWL und dem Fraunhofer Institut setzt, um die lokale Technologieführerschaft zu stärken. Das ist uns auch durch viele hochwertige Ausbildungsplätze gelungen. Durch die Krise darf unser Innovationsmodell nicht gefährdet werden. Wenn große Paderborner Unternehmen jetzt Ausbildungsplätze streichen, fehlt mir jegliches Verständnis. So ein Verhalten gefährdet das eigene Wohl – und den Technologiestandort Paderborn. In der weltweiten Finanzkrise vor elf Jahren half der deutsche Staat der Automobilbranche mit einer Abwrackprämie wieder auf die Sprünge. Inzwischen wurde in der Branche Jahre lang sehr gut verdient. Ist vor diesem Hintergrund eine ähnliche Maßnahme vertretbar oder aus Ihrer Sicht sogar dringend geboten? Oder sollte man Standortsicherung anders betreiben?Zanghi: Damals war die Abwrackprämie ein großer Erfolg, von dem wir alle gelernt und profitiert haben. Heute braucht es ebenso effektive Modelle, die den technologischen und ökologischen Wandel unserer Industrie vorantreiben. Wenn keine überraschende Wende kommt, werden Kaufhilfen für Zukunftsprodukte unvermeidbar sein. Auf Lohnerhöhungen müssen die Arbeitnehmer in Ihrem Bereich in diesem Jahr schon einmal verzichten. Kommen da noch mehr Zumutungen auf sie zu? Oder bietet diese Krise außer materiellen Einbußen womöglich sogar Chancen? Was gilt es im Sinne der Arbeitnehmer nun unbedingt zu vermeiden? Oder umgekehrt: Jetzt anzustreben?Zanghi: Der &bdquo;Krisentarifvertrag" hat, mit fester Laufzeit bis zum Ende diesen Jahres, die Funktion, gute Arbeitsplätze sicher durch die Krise zu bringen. Im Anschluss ist vollkommen klar, dass wir als IG Metall den technologischen und ökologischen Wandel sozial gestalten werden. Die Beschäftigten müssen immer finanziell am Fortschritt beteiligt werden. Das ist auch im gesamtgesellschaftlichen Interesse. Platt gesagt: Autos kaufen keine Autos. Mit Carmelo Zanghi sprach NW-Redakteur Hans-Hermann Igges

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