Chefarzt der Kinderklinik: Hohe Dunkelziffer bei fetalem Alkoholsyndrom

Paderborn. &bdquo;Ein Gläschen Sekt oder Wein können Sie ruhig trinken". Noch immer gibt es Frauenärztinnen und -ärzte, die schwangeren Frauen diesen Satz mit auf den Weg geben. Dabei ist es inzwischen seit Jahrzehnten erwiesen, dass Alkoholgenuss während der Schwangerschaft die körperliche und geistige Gesundheit des Ungeborenen gravierend und unwiderruflich schädigen kann. Und das auch schon bei kleinen Mengen. Der Alkoholkonsum einer werdenden Mutter wirkt sich vor allem auf das Gehirn des Embryos aus und gilt sogar als eine Hauptursache für eine verminderte Intelligenz bei Kindern. Außerdem sind die an der unheilbaren Fetalen Alkoholspektrumstörung (FASD) erkrankten Kinder oft sozial auffällig und entwicklungsverzögert. Mehr als jedes 100. Kind betroffen &bdquo;Man geht davon aus, dass bundesweit 1 bis 2 Prozent aller Kinder an einer Alkoholspektrumstörung leiden", sagt Friedrich Ebinger, seit 2011 Chefarzt der Klinik für Kinder- und Jugendmedizin des St. Vincenz-Krankenhauses Paderborn. Zum Vergleich: Beim Down-Syndrom sind es 0,1 bis 0,2 Prozent. Auch an der hiesigen Kinderklinik gab und gibt es junge Patienten mit der Diagnose FASD: 2019 waren es acht Fälle, im Jahr davor fünf, im noch jungen Jahr 2020 ist es bisher ein Kind. &bdquo;Im Vergleich zur Literatur kommen mir unsere Zahlen niedrig vor", geht der Chefarzt von einer &bdquo;hohen Dunkelziffer" aus. Offenbar hat längst nicht jeder Kinderarzt die Erkrankung im Blick, so dass sie oft nicht diagnostiziert wird. &bdquo;FASD ist sicher eine der häufigsten Erkrankungen, die Entwicklungsstörungen verursachen", erklärt Friedrich Ebinger. Dennoch sei sie im ärztlichen Bereich noch nicht so stark im Bewusstsein verankert wie beispielsweise genetische oder Stoffwechsel-Störungen, vermutet der Chefarzt. Die medizinische Beschreibung des Fetalen Alkoholsyndroms (FAS) erfolgte Mitte der 1970er Jahre in den USA. &bdquo;Es hat aber bis in die 90er Jahre hinein gedauert, bis die Erkrankung als wirkliches Problem wahrgenommen wurde." Merkmale im Gesicht Neben Entwicklungs-, Leistungs- und emotionalen Störungen gibt es auch äußerliche Hinweise: Wachstumsprobleme sowie mehr oder weniger stark ausgeprägte Auffälligkeiten im Gesicht: kurze Lidspalten, schmale Oberlippe und ein fehlendes &bdquo;Grübchen" zwischen Nase und Mund. Mit Hilfe eines Punktesystems wird die Diagnose FASD gestellt. Die erfolgt allerdings oft erst im Schulalter – wenn die Kinder auffällig geworden sind. Doch je früher die Erkrankung festgestellt wird, umso besser sei es für die weitere Entwicklung des Kindes, so Friedrich Ebinger, vor allem mit Blick auf eine passende Beschulung. Betroffene Kinder vergessen viel und lernen langsamer. Zu den fördernden Maßnahmen gehören Ergo- und Logopädie sowie Physiotherapie und &bdquo;ein emotional stabiles Umfeld", betont der Kinderneurologe. Betroffene aus allen Schichten Bei Neugeborenen wird die vorgeburtliche Schädigung eher selten direkt erkannt. Weil bei Babys unter anderem auch die typischen Gesichtsmerkmale fehlen, benötigten die Ärzte dafür Informationen zum Alkoholkonsum der Mutter in der Schwangerschaft. Doch die gibt es nur selten, denn die Mütter von FASD-Kindern kommen aus allen Gesellschaftsschichten. &bdquo;Nach Studienlage zeigen in Deutschland etwa 20 Prozent der Schwangeren einen moderaten und 8 Prozent einen riskanten Alkoholkonsum. Im Wochenbett sieht man das den Frauen nicht an. Vermutlich ist auch hier die Dunkelziffer hoch", sagt Chefarzt Ebinger. Ist hingegen die Vorgeschichte bekannt, so zum Beispiel bei Drogenkranken, könne man ganz gezielt hinschauen. Interdisziplinäres Kinderschutzteam Um Babys, Kinder und Jugendliche zu schützen, hat der 61-Jährige vor knapp zehn Jahren etwas Neues an der Kinderklinik eingeführt: Im interdisziplinären &bdquo;Kinderschutzteam" besprechen Ärzte, Sozialarbeiter, Pflegefachkräfte, Psychologen und Therapeuten regelmäßig Verdachtsfälle, bei denen es vor allem um Misshandlung, Vernachlässigung und seltener um sexuellen Missbrauch geht. Bei Bedarf arbeitet man mit den Jugendämtern von Stadt und Kreis Paderborn zusammen. Auch bei Adoptionsfreigaben kooperiert die Kinderklinik mit dem Jugendamt und erstellt Beurteilungen. Liegt dann beispielsweise ein Verdacht auf FASD vor, werde das dokumentiert. &bdquo;Dann muss am Ball bleiben", betont Chefarzt Friedrich Ebinger.

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