Erst geflüchtet, dann geehrt: Ein Fußmarsch ins Glück

Lichtenau-Henglarn. Rund 150 Kilometer sind es von Nazareth nach Bethlehem. Maria und Josef hatten vor 2.000 Jahren keine andere Wahl, als zu Fuß loszuziehen. Von Lichtenau nach Henglarn sind es zwar nur rund zwölf Kilometer, doch diese Strecke legen heute die Wenigsten zu Fuß zurück. Karmand Tofiq hat es gemacht – und dieser Marsch hat sein Leben verändert. Denn der damals 23-Jährige machte sich 2018 auf den Weg durchs Altenautal, um sich eine Existenz aufzubauen. 2015 war er aus dem Nordirak geflohen. In der kurdischen Stadt Sulaimaniyya sahen seine Eltern keine Zukunft mehr für ihren Sohn und schickten ihn nach Europa, wie zuvor schon seinen Bruder. Tofiq schlug sich durch: über die Türkei, die Balkanroute, München und Essen bis nach Lichtenau. Er kam nicht nach Deutschland, um sich aushalten zu lassen. Er wollte etwas erreichen. Der heute 27-Jährige sitzt kurz vor Weihnachten im Büro seines Arbeitgebers, dem Bauunternehmen Johannes Wegener in Henglarn. Ein Tag am Bau liegt hinter ihm, doch Tofiq lacht. Er ist gut drauf, seine Chefs loben ihn im Gespräch immer wieder, er kommt an bei seinen Kollegen, hat endlich eine eigene Wohnung und freut sich aufs Fußballtraining beim USC Altenautal. Traditionsbetrieb mit 53 Mitarbeitern All das gäbe es vielleicht nicht, wenn Karmand Tofiq nicht einfach losmarschiert wäre im Sommer 2018. Damals hatte er gerade ein Jahr einer Einstiegsqualifizierung als Zweiradmechaniker in Paderborn absolviert. &bdquo;Das war aber etwas langweilig für mich. Die Arbeit war jeden Tag sehr ähnlich“, erklärt er freundlich – und ganz problemlos auf Deutsch. Dass er mehr wollte von seinem Job, ließ er auch seine Ansprechpartnerin bei der Handwerkskammer wissen – und die erinnerte sich an die Baufirma Wegener. Dem traditionsreichen Betrieb, der mit aktuell 53 Mitarbeitern bei einem Jahresumsatz von 30 Millionen Euro kleine und große, unauffällige und prestigeträchtige Bauten plant und hochzieht, geht es derzeit wie allen Handwerksbetrieben: &bdquo;Wir sind immer auf der Suche nach guten Mitarbeitern“, sagen Christoph und Jürgen Wegener. Mit dem geflohenen Mann aus dem Irak wollten sich die Geschäftsführer deshalb nur allzu gerne unterhalten. Weil Karmand Tofiq noch kein Auto oder Fahrrad hatte, lief er eben zu Fuß von Lichtenau nach Henglarn zum Vorstellungsgespräch. &bdquo;Allein das hat uns schon enorm beeindruckt. Wer macht das heute noch? Wer soviel Biss hat, ist bei uns richtig,“ sagt Christoph Wegener. Dabei erinnerte er sich auch die Worte seines Vaters, der bei Neueinstellungen immer gesagt habe: &bdquo;Wenn einer eine Eins in Sport hat, kannst du ihn nehmen. Dann kann er sich quälen.“ Erster Stahlbetonbauer in der Firma Und mit Karmand Tofiq landeten die Wegeners einen Volltreffer. Der Fußmarsch und ein paar Tage Probearbeiten machten die Chefs sicher, dass der Neue einer für den Bau ist. Sie schlugen ihm eine Lehre als Stahlbetonbauer vor. &bdquo;Diesen Beruf können wir sehr gut gebrauchen, weil die Fähigkeiten im Einschalen und Bewehren immer mehr gefragt sind“, sagt Wegener. Tofiq wird neben den Maurern der erste gelernte Stahlbetonbauer im Unternehmen. Vor Arbeit macht er sich nicht bange. Sammeln am Betrieb ist immer morgens um 6 Uhr, die Kolonnen fahren zu ihren Baustellen. Am Anfang kennt Tofiq zwar die Wörter für Werkzeuge und Material noch nicht, doch der neue Azubi lernt schnell. Das Fachliche ist die eine Seite. Er fühlt sich aber auch in den Umgang mit den Kollegen ein. &bdquo;Heute freut sich jeder, wenn Karmand mit im Team ist“, weiß Wegener von den Mitarbeitern. Die Truppe mag ihn, weil er einfach ein netter Kerl ist. Das spitzbübische Lächeln, die zuvorkommende Art, sie ist ihm auch beim lockeren Gespräch im Chefbüro anzumerken. &bdquo;Ich habe richtig viel Spaß. Die Arbeit ist toll und ich bin dankbar, dass mir Familie Wegener diese Chance gegeben hat“, sagt der Mann, der Kurdistan mittlerweile dauerhaft gegen das Altenautal getauscht hat. Der nächste Schritt steht bevor Die Kontakte nach Hause sind nicht ganz einfach. Die Eltern vermisst er: &bdquo;Bei ihnen ist die Internetverbindung oft schlecht.“ Der große Traum ist es daher, die Eltern zu besuchen. Urlaubstage spart Tofiq auf, um mal vier Wochen am Stück dorthin reisen zu können. Kurz vor Weihnachten erhielt er als vorgezogenes Geschenk seinen irakischen Pass von der Botschaft zurück und kann eine langfristige Aufenthaltserlaubnis in Deutschland bekommen – und so wird auch die große Reise möglich. Ganz weg will Karmand Tofiq aus Henglarn aber nicht mehr. Hier hat er sich etwas aufgebaut. Mit Köpfchen und mit seinen zwei Händen. Sollte es mal jemanden geben, der ihm das nicht glaubt, dann kann er eine Urkunde der Handwerkskammer Ostwestfalen-Lippe zu Bielefeld vorweisen. Sie belegt, dass er 2021 der zweitbeste Stahlbetonbau-Azubi der Region war. Einen Vize-Kammersieger haben auch die Wegeners im Betrieb noch nicht allzu oft erlebt. &bdquo;Wir haben uns darüber natürlich sehr gefreut für Tofiq“, sagt Christoph Wegener. Und sie haben im Betrieb auch längst sein Potenzial erkannt. In den nächsten anderthalb Jahren soll der einstige Spaziergänger den nächsten Schritt machen: Karmand Tofiq erhält von Wegener die Chance, die Meisterschule zu besuchen. Dorthin muss er dann nicht laufen. Mittlerweile hat der Stahlbetonbauer ein eigenes Auto.

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