Spurensuche im Hövelhofer Lager für Nazi-Größen

Hövelhof-Staumühle. Es war ein Leben in Dreck, Kälte, mit Unterernährung – und im Angesicht des Todes. In Staumühle, am Rand der Senne, waren von April 1945 bis Juli 1948 zeitweise bis zu 10.000 Menschen untergebracht, die von den Siegermächten als NS-belastet ausgemacht worden waren. Ein Autor vom Niederrhein holt jetzt mit dem Schicksal eines Mannes die damaligen Zeit ins Bewusstsein zurück. Auf dem Gelände der heutigen JVA haben sich schon vor Naziherrschaft und Zweitem Weltkrieg Dramen abgespielt. Seit 1916 diente Staumühle als Gefangenenlager, war Kaserne, dann später Garnison der Waffen-SS, Lager für Kriegsgefangene und Seuchenlazarett der Nazis, angedockt ans Stalag 326 in Stukenbrock. Rüdiger Gollnick, Hochschullehrer im Ruhestand aus Bocholt, nimmt in einem neuen Buch die Zeit nach der Flucht der Nationalsozialisten aus dem Lager in den Blick. Für das 136-seitige Werk &bdquo;Verhaftet, interniert, verhungert“ (Pagina-Verlag) hat er sich auf Spurensuche nach Georg Nöring begeben. Dessen Nachfahren hatten den Regionalhistoriker kontaktiert, weil sie mehr über die Umstände des Todes erfahren wollten. Insassen waren komplett isoliert Nöring, ein honoriger und durchaus beliebter Pädagoge, war bis Kriegsende Leiter einer Mädchenschule in Kempen bei Krefeld und auch Ortsleiter der Nationalsozialistischen Volkswohlfahrt. Mit Einmarsch der Amerikaner im Rheinland wurde er zügig, wie so viele andere Amtsträger, verhaftet und ins Rheinwiesenlager nach Rheinberg gebracht. Gollnick hat dieses Lager schon für ein früheres Buch erforscht: &bdquo;Bis zu 100.000 Menschen vegetierten auf einer Wiese. Die Zustände waren unhaltbar.“ In historischen Quellen fand er heraus, dass Nöring von dort nach Staumühle gebracht wurde. Er vermutet, dass der Schulleiter als &bdquo;systemerhaltender Beamter“ und aktiver Parteigänger der NSDAP (Eintritt bereits am 1. Mai 1933) separiert werden sollte. Die Insassen in der Senne waren komplett isoliert, kannten oft die Vorwürfe gegen sie nicht. Die Sieger sperrten mit Kriegsende großzügig ein, denn sie hatten Angst vor aufflammenden Widerständen unter nazi-treuen Deutschen. Großindustrielle und ein Medienmogul gehörten zu den Insassen Die Amerikaner, und ab Juni 1945 die Briten, hielten normale aber auch hochrangige Männer und Frauen aus dem NS-Staat in Staumühle fest. Unter ihnen befanden sich, wie Gollnick schreibt, in einem Sperrlager Adolf Hitlers Leibarzt Karl Brandt, Reichsjugendführer Arthur Axmann, aber auch Medienmogul Alfred Hugenberg und der Großindustrielle Alfried Krupp von Bohlen und Halbach. &bdquo;Nöring kam offenbar schon geschwächt in Staumühle an“, vermutet der Autor. Im Lager, aufgeteilt in mehrere Bereiche, waren die Zustände nicht dazu angetan, dass Besserung eintrat. Gollnick berichtet von Mangel allüberall. Ordentliche medizinische Versorgung war nahezu unmöglich. Nahrung für die Nazi-Gefangenen wurde extrem rationiert, sie standen nach Maßgabe der Alliierten am Ende der Prioritätenliste bei der Versorgung. &bdquo;Decken gab es nur wenige, an Hygiene war kaum zu denken“, sagt Gollnick. Die Geschichte Staumühles und damit auch die Zeit des Internierungslagers hat die Paderbornerin Christa Labudda intensiv ausgewertet und Gollnick darüber berichtet. Sie betont, dass die Zustände nach Kriegsende zwar nahezu menschenunwürdig, aber keinesfalls mit Konzentrationslagern der Nazis zu vergleichen gewesen seien. Labudda: &bdquo;Hier ging es nicht um die Vernichtung von Menschen, sondern es wurden viele auf engem Raum in einer Mangelsituation untergebracht.“ Debatte über Staumühle im Unterhaus Die Briten führten Staumühle bis Mitte 1948. Es war das größte Internierungslager in ihrer Zone, teilweise lebten hier auch bis zu 800 Frauen. Im Frauenlager soll es laut Quellen etwas humaner als bei den Männern zugegangen sein. Die Briten seien darauf bedacht gewesen, vor allem in den Statistiken wenige Tote verzeichnen zu müssen. So seien Todgeweihte vielfach in ihr Schicksal entlassen worden, damit sie offiziell nicht mehr zu den Opfern von Staumühle zählten. Statistiken weisen heute 173 Tote aus. Lesen Sie auch: Mehr als nur Nazi-Gemäuer - Eine Reise zu den Wurzeln der Bürener Wewelsburg Die Zustände und den Umgang mit den NS-belasteten Deutschen beschreibt der Autor im Buch auf wissenschaftlich fundierte Weise. Gollnick hat nach anderthalbjähriger Recherche keinen Roman, sondern einen sachlichen Aufsatz verfasst. Abbildungen und Fotos sorgen für Anschaulichkeit. Seine Quellen belegten, so der Erziehungswissenschaftler, dass über Staumühle sogar im Londoner Unterhaus debattiert worden ist: &bdquo;Bei Besuchen von britischen Abgeordneten und Journalisten im Lager im April 1946 zeigten sich ausgemergelte und kranke Gefangene. Das wurde in England als skandalös aufgefasst, denn die Briten wollten im Umgang mit den Besiegten humaner handeln als etwa die Russen.“ Nach der Debatte seien tatsächlich Verbesserungen eingetreten. Todesursache: Unterernährung Für den Niederrheiner Georg Nöring kamen sie zu spät. Er starb mit 54 Jahren schon am 25. November 1945. Auf dem Hövelhofer Friedhof sind heute noch Gräber von Internierten zu finden. In der ersten Zeit des Lagers, so heißt es in einer Quelle, seien die Angehörigen der Gestorbenen nicht informiert und die Toten &bdquo;ohne die geringste feierliche Formalität“ auf dem Hövelhofer Friedhof verscharrt worden. Als Nöring starb, fanden aber schon wieder Überführungen, zumindest gen Westen, statt. Sein Leichnam wurde ins heimische Kempen transportiert. Als Todesursache notierte ein Arzt: &bdquo;Geschwür am Unterschenkel, Anzeichen einer Allgemeininfektion, Unterernährung.“ Als die Todesnachricht die Heimat erreicht, bricht die Frau des Pädagogen kkomplett zusammen. &bdquo;Sie hat sich nicht mehr erholt“, weiß Historiker Gollnick. Die Witwe starb zwei Wochen nach ihrem Mann, fünf Kinder wurden zu Waisen. Die jüngste Tochter Hanneburg ist heute 84 Jahre alt. Sie und ihr Mann hatten Gollnick mit der Recherche beauftragt. Der Autor sagt bei der Buch-Vorstellung: &bdquo;Die Familie ist dankbar, dass sie nun mehr weiß über die Geschehnisse. Sie haben auch nicht gebremst, als klar wurde, dass Nöring im NS-Staat als Parteigenosse aktiv gewesen ist.“ Manches Rätsel um Georg Nörings letzte Monate ist damit gelüftet. Es ist eines der Schicksale von vielen zehntausend Menschen in Staumühle – vor, während und nach der Nazi-Herrschaft. Bis heute können sie als Mahnung dienen für die Schrecken des Krieges – wenn sie denn wahrgenommen werden.

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