
Bad Oeynhausen. Erst elf Jahre war Werner Ibold alt, als der Zweite Weltkrieg zu Ende ging. Und trotz seines jungen Alters bewies der Bad Oeynhausener im Mai 1945 Mut. Er marschierte zu den Besatzern und erklärte mit seinem wenigen Schulenglisch, dass die Familie dringend einen Krankentransport für Oma brauche. Am nächsten Tag standen die Sanitäter vor der Tür. Und Mutter Ibold nutzte die Chance, in Omas Gepäck das Familiensilber zu schmuggeln.
Mit einem Oberschenkelhalsbruch lag Werner Ibolds Oma im April 1945 im Bad Oeynhausener Krankenhaus. Damals noch an der Weserstraße, war das Haus nach der Bombardierung der Weserhütte am 30. März 1945 mit Verwundeten überfüllt. „Oma kam nach Hause und wurde dort versorgt“, erinnert sich Werner Ibold. Der heute 81-Jährige war damals ein elfjähriger Junge, der mit seiner Mutter und seinen beiden Brüder auf der gleichen Etage des Mietshauses an der Wiesenstraße wohnte, wie seine Großmutter. „Oma hat den Einmarsch der Amerikaner vom Bett aus miterlebt. Sie war schon 80 und das war moralisch für sie schwer zu verarbeiten“, sagt Ibold.

Dann kam der Räumungsbefehl. Wie bekommen wir Oma aus der Stadt, sei die zentrale Frage in der Familie gewesen. „Mein Vater, der als Dachdecker nicht eingezogen wurde und vor Ort die Bombenschäden reparieren musste, hatte für unsere Familie ein Ausweichquartier in Bergkirchen gefunden.“ Doch die bettlägerige Oma konnte mit ihrem Bruch schlecht auf einen Leiterwagen gepackt werden. Der junge Werner hatte eine Idee.
„Als Pimpf sollte ich einige Zeit vorher an der Panzersperre Melbergen die Stadt verteidigen“, erzählt er. Zusammen mit zwei Mitgliedern des Volkssturmes stand der Elfjährige also auf der Koblenzer Straße und sollte die Amerikaner am Eindringen in die Stadt hindern. „Dazu kam es nicht mehr, weil die Stadt ja kampflos übergeben wurde.“ Auf dem Rückweg nach Hause riss sich Werner Ibold Stücke der Uniform vom Leib: „Das Halstuch kam weg und ich habe meinen Fahrtendolch mit dem Hitler-Abzeichen ruiniert. Mich quasi selbst entnazifiziert.“ Später habe er sich geärgert: „Bei den Amerikanern hätte ich das gegen Schokolade und Kaugummi eintauschen können. Die waren ganz scharf auf solche Souvenirs.“ Während seines Rückweges sah er dann, das auf der oberen Herforder Straße eine Sanitätseinheit der Besatzer lag.
Und daran erinnerte sich der junge Werner einige Zeit später, als es um den Krankentransport für Oma ging. „Ich bin da hinmarschiert“, sagt er. Seit einem Jahr hatte der damals Elfjährige Englisch in der Schule und versuchte den Soldaten vor der Tür sein Anliegen zu erklären. „Die haben kein Wort verstanden und mich zum Kommandeur geschleppt.“ Der sei Kanadier gewesen, hatte die Füße auf dem Tisch und – verstand Deutsch. „Er hörte mir zu, grinste und ließ Mutter ausrichten, dass sie kämen.“ Freudestrahlend lief Werner Ibold nach Hause: „Die holen Omi ab“, habe er gerufen. Und damit die Mutter in Panik versetzt, die ihm zuerst kein Wort geglaubt habe. Trotzdem aber zwei Taschen packte.
Am nächsten Tag fuhr tatsächlich ein Sanitätswagen in der Wiesenstraße vor. „Zwei baumlange farbige Soldaten schleppten die Trage zu Oma.“ Die sei eine sehr weltoffene Frau gewesen und fand es nach dem anfänglichen Schock über die Soldaten an sich völlig normal, abgeholt zu werden. „Unser Treppenhaus war so klein, die mussten Omi hochkant stellen und raustragen.“ Oma kam mit einem Soldaten nach hinten in den Wagen, der zweite stieg mit Mutter und den Söhnen vorne ein. Die seien unheimlich rührend gewesen, die Soldaten. „Das war Menschlichkeit in einer miesen Zeit“, nennt es Werner Ibold.
Der größte Teil der Familie durfte im Sanitätswagen mitfahren. „Wir sind ganz stolz durch die Sperre an der Mindener Straße gefahren“, sagt Ibold schmunzelnd. Vorbei an den anderen Evakuierten, die mit ihren Leiterwagen dort warteten. Und die Mutter, die war nach dem ersten Schreck ganz mutig: „Sie hatte zwei Taschen gepackt, in denen sie auch das Silberbesteck versteckt hatte.“ Und weil an der Sperre niemand den Sanitätswagen kontrollierte und die beiden Soldaten an den Taschen uninteressiert waren, schaffte Familie Ibold mehr aus der Stadt als andere. „In Bergkirchen gab es gleich einen Menschenauflauf, als wir mit dem Sanitätswagen vorfuhren.“ Die Oma wurde kurze Zeit später ins Wittekindshofer Krankenhaus Vorwerk verlegt, wo sie verstarb.
Bis 1947 lebte die Familie in Bergkirchen und zog dann nach Wulferdingsen um. „Von dort bin ich täglich mit dem Rad zur Schule in der Stadt gefahren“, erinnert sich der 81-Jährige. 1948 wurden die ersten Häuser in der Innenstadt durch die englischen Besatzer freigegeben und die Familie zog in die heutige Mendelstraße, in das Haus der Großeltern väterlicherseits. „Während der Besatzungszeit kaufte mein Vater dann das Anwesen hier in der Präses-Koch-Straße und wir zogen 1953 erneut um.“