
05.05.2015 | 10.06.2015, 17:09
Bad Oeynhausen
Zeitzeugen: Margrit Beckers (78) Mutter schmuggelte Essen
Bad Oeynhausen. Oft hat Margrit Becker vor der Sperre am Südbahnhof gestanden und auf ihre Mutter gewartet. „So manches Kaugummi und so manches Stück Schokolade habe ich dabei ergattert“, erinnert sie sich schmunzelnd. Denn die englischen Wachposten, die die besetzte Innenstadt kontrollierten, hatten ein Herz für Kinder. „Die waren schon toll zu uns Kindern“, erinnert sich die 78-Jährige. Täglich musste ihre Mutter, Irmgard Liliensiek, mit ihrem Passierschein in die Stadt – sie arbeitete beim Engländer in der Küche. Und brachte manche Leckerei mit nach Hause.
In Rehme ist Margrit Becker groß geworden. Direkt an der Bahn wohnte sie mit Mutter und Bruder. „Heute ist das die Friedensstraße, früher war es die Adolf-Hitler-Straße Nummer 40.“ Wenig Verkehr herrschte damals auf der Bahnstrecke. Lediglich englische Züge passierten die Kurstadt. „Wir hatten von Zuhause freien Blick auf das Stellwerk und haben das Signal beobachtet“, erzählt Margrit Becker. Sobald das einen Zug ankündigte, rannten die Kinder den Bahndamm hoch und winkten nach Leibeskräften. „Die Züge waren unheimlich langsam“, sagt Becker. „Und die Engländer haben ganz viel zu uns rausgeworfen.“ Toastbrot, Schokolade oder auch Bonbons seien in die Arme der deutschen Kinder geflogen. „Wir hatten das ganz schnell spitz, dass es dort etwas gab.“
Zur Miete haben Margrit Becker, ihre Mutter und der Bruder in Rehme gewohnt. „Unser Vater war in Gefangenschaft.“ Als alle aus der Stadt raus mussten, bekam die Familie Einquartierung: „Meine Mutter gab unser Wohnzimmer an Schneidermeister Daube ab. Der hat dort einige Jahre geschlafen.“ Und später in Rehme eine Schneiderei eröffnet.
„Wenn wir hörten, dass sie gegen 22.30 Uhr vom Spätdienst kam, sind wir Kinder immer aus dem Bett geflitzt.“ Gelber Reis, süß, mit Rosinen drin, Toastbrot oder Käsestücke hatte die Mutter dabei. „Das hat sie rausgeschmuggelt. Oma hatte ihr einen Beutel genäht für den Bauch – dort hat sie alles drin transportiert.“ Und kam eines Tages nach Dienstschluss in eine Leibesvisitation an der Sperre. Der Ausweis war weg. „Aber sie hatte Glück und bekam kurze Zeit später einen neuen ausgehändigt.“
Neben dem Küchenjob machte Irmgard Liliensiek für eine englische Frau einige Hilfsarbeiten. Sie wusch die Wäsche – und bekam dafür das Seifenpulver gestellt. „Negligés oder Nylonstrümpfe lagen dann in Rehme im Wäschekorb.“
Mit den Seifenflocken der Engländer hantierte die Mutter so sparsam, dass immer genügend für die Familienwäsche übrig war. „Sie hat sich auch so viel Zigaretten zusammengespart, dass wir uns neue Gardinen leisten konnten.“ Diese habe die Mutter dann erkungelt.
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