„Die Cassette“ am Markt: Ein Mindener Geschäft im Laufe der Zeit

Minden. Die Erinnerungen an diesen sehr besonderen Laden in der Mindener Innenstadt sind ein bisschen vage - vielleicht, weil das schlechte Gewissen immer dabei war. Schließlich war der Grund für unsere Besuche im Laden &bdquo;Die Cassette“ am Markt, eher am Rande der Legalität angesiedelt: Es ging um Raubkopien. Denn um die besten Computerspiele für den &bdquo;Commodore 64“, kurz &bdquo;C64“, zu bekommen, die auf dem Schulhof getauscht wurden, brauchten wir leere Disketten. Und die gab es damals nirgendwo günstiger als am Mindener Markt. &bdquo;Der beste Laden zwischen Bielefeld und Hannover“, sagt der ehemalige Inhaber Peter Bredow heute. Damals hieß er noch Peter Funke, später hat er den Namen seiner Frau angenommen. 1982 hatte er seinen ersten Laden in der Innenstadt aufgemacht, vorher war er mit einem Radio- und Fernsehgeschäft an der Ringstraße vertreten. &bdquo;Das war ein Versuch, um zu gucken, ob sich das lohnt“, erzählt der 77-Jährige. &bdquo;Ich kannte das Geschäft in der Innenstadt ja nicht.“ Perfekte Bedingungen für den Laden Direkt an der Martinitreppe versuchte er sein Glück. &bdquo;Das Gebäude gehörte damals der Provinzial-Versicherung. Die hatten wohl darauf spekuliert, dass die Treppe irgendwann geradeaus gebaut wird.“ Dadurch waren die Bedingungen für einen Test ideal: Die Miete war niedrig, die Kündigungsfrist lag bei einem Monat. Der Versuch war erfolgreich: Das &bdquo;Fachgeschäft für Magnettonträger an der Martinitreppe“, wie das MT am 2. Oktober 1982 titelte, war mit allen Arten von Kassetten erfolgreich. Wenig später zog der gelernte Rundfunk- und Fernsehtechniker dann direkt an den Markt um. Dort, wo heute das Café &bdquo;Poppins“ unter geschwungenen Bögen zum Verweilen einlädt, ging für uns damals die analoge Zeit langsam zu Ende, während die digitale Zukunft ihre ersten feinen Strahlen am Horizont erkennen ließ. Mit 12 bis 14 Jahren wollten wir so ungefähr alles haben, was in dem kleinen merkwürdigen Lädchen angeboten wurde. Hier gab es Computerspiele, gebrauchte und neue Computerteile, die damals unerlässlichen Joysticks - und natürlich das, was erst etwas später für uns viel wichtiger werden sollte und das dem Laden den Namen gegeben hatte: Kassetten. Damals gab es hier noch einen richtigen Tresen, insgesamt war es dunkel und verwinkelt. Die heute im Café sichtbaren verzierten Säulen waren verkleidet und unter abgehängten Decken verborgen. Perfekte Lage auf dem Weg zum ZOB Für uns lag der Laden noch dazu perfekt - und damit wohl auch für seinen Betreiber: Wer damals vom Herder, der Caroline, Käthe oder Rats- also den damals vier innerstädtischen Schulen - zum ZOB ging, kam hier vorbei. Kein Wunder, dass das Geschäft gegen kurz nach ein Uhr mittags in der Regel voll war. Dafür brauchte es allerdings auch nicht viel mehr als drei oder vier Jungs mit Tornister auf dem Rücken. Von außen wirkte der Laden, der sich damals in der linken Hälfte des heutigen Cafés befand, auf viele Menschen vermutlich wenig einladend: Die Baustahlmatte hinter der Schaufensterscheibe, die wohl Einbrüche verhindern sollte, gehörte ebenso dazu, wie ein großes Sammelsurium dahinter. Hier gab es die ungeliebte &bdquo;Datasette“, ein Gerät, mit dem auf Kassetten gespeicherte Programme in geradezu quälender Langsamkeit in den C64 geladen werden konnten. Meistens musste man schon ins Bett, wenn das Programm endlich am Start war. Oft wurde zusammen gespielt Begehrter war da das wesentlich schneller Diskettenlaufwerk 1541 für den C64, mit dem man Spiele immerhin so schnell laden konnte, dass man sich nur noch ein Butterbrot schmieren konnte, wenn man vor dem Spielen noch auf die Toilette musste. Oft wurde aber sowieso zusammen gespielt: Viele der damals gängigen Computerspiele auf dem C64, dem Nachfolger &bdquo;Amiga“ oder dem weniger auf Spiele ausgelegten Konkurrenzprodukt &bdquo;Atari ST“ brauchten mindestens zwei Spieler. Nach dem Spielen wurde dann meist &bdquo;noch schnell“ kopiert – was regelmäßig zu Ärger zu Hause führte. Nicht wegen der Raubkopien, von denen unsere Eltern meist nicht viel wussten. Sondern weil das Kopieren einer Diskette für beide Seiten sechs Diskettenwechsel benötigte: Lesen, Diskette wechseln, schreiben, Diskette wechseln, lesen... Brote schmieren konnte man dabei auch nicht, das Kopieren erforderte volle Aufmerksamkeit. Was sich damals für uns etwa wie Briefmarkensammeln anfühlte, war natürlich kriminell. Mit immer neuen Kopierschutz-Funktionen arbeitete die Industrie dagegen an. Heute sind Raubkopien zumindest kein Massenphänomen mehr und unsere Aktionen von damals zum Glück längst verjährt. Geld sparen mit der Bohrmaschine Neben dem Futter für das Laufwerk 1512 - die 5 1/4 Zoll-Disketten und später für Atari, Amiga oder PC die 3 1/2 Zoll-Disketten, gab es am Markt auch wichtiges Zubehör: Diskettenlocher zum Beispiel. Die brauchte man, wenn man eine 5 1/4-Zoll-Diskette im C64 beidseitig benutzen wollte. Welcher meiner Freunde damals mit dem genialen Wissen aufwarten konnte, dass man die Speicherkapazität der kleinen 3 1/2-Zoll-Disketten verdoppeln konnte, wenn man oben rechts ein Loch bohrte, weiß ich nicht mehr. Aber ich erinnere mich gut an die Zehner-Stapel im Schraubstock im Keller und den 10-Millimeter Stahlbohrer in der Bohrmaschine. Geld sparen war damals einfach. Verkauft wurden die Disketten in weißen No-Name-Kartons als Zehner-Packs für zehn Mark – ein überaus fairer Kurs. Und das war auch ein bisschen die Philosophie, mit der Peter Bredow Kundschaft in seinen Laden lockte: &bdquo;Ich hatte damals rund sechs Millionen Mark Umsatz im Jahr – und an rund einer Million davon habe ich nichts verdient.“ Festplatten waren zum Beispiel später so ein Posten. &bdquo;Die habe ich zum Einkaufspreis weiter gegeben, da musste man aber auch schnell sein – die waren zum Teil eine Woche später schon wieder billiger. Wenn man die dann nicht losgeworden war, hat man am Ende draufgezahlt.“ Mit solchen Angeboten holte er die Kunden in den Laden, die dann auch für andere Dinge wieder kamen. &bdquo;Meine einzige Konkurrenz in der Innenstadt war damals Karstadt – aber die waren viel zu schwerfällig.“ Computerspiele kauft man bei der &bdquo;Cassette“ Die besten Geschäfte machte der heute 77-Jährige aber mit Computerspielen: Als 1995 das Strategiespiel Command and Conquer auf den Markt kam, hatte er schon lange vorher 500 Exemplare bestellt. &bdquo;Das war klar, dass das Spiel der Renner würde – da hatten die Leute schon ein Jahr vorher nach gefragt. Und dann war das ganz schnell überall in Deutschland ausverkauft – nur ich hatte das da. Und dann habe ich das auch noch zum Einkaufspreis verkauft – so etwas merken sich die Kunden.“ Für den Geschäftsmann lohnte sich die Aktion: Danach war für viele Mindener klar: Computerspiele kauft man bei der &bdquo;Cassette“. Lesen Sie auch: 30 Jahre Game Boy und ich: Eine Liebeserklärung Einen schwunghaften Handel führte Peter Bredow später auch mit Spielekonsolen und Gameboys sowie dem Zubehör und Spielen für die Geräte – neu und gebraucht. Gerade bei gebrauchten Spielen waren für Peter Bredow gute Gewinnmargen drin. Mit dem Spiel Donkey-Kong für die Nintendo Konsole gelang ihm noch einmal ein Coup. &bdquo;Da hatte ich 100 bestellt, aber 200 bekommen. Erst dachte ich, die werde ich nicht los, hab sie aber erst mal behalten. Und dann war ich wieder der Einzige, der das noch hatte.“ Jeden Tag eine Kleinanzeige Auf sich aufmerksam machte der Laden aber auch mit einer eigenwilligen Werbung: &bdquo;Ich habe über Jahre jeden Tag eine Kleinanzeige im MT geschaltet. Da stand immer &bdquo;Viel geben, wenig nehmen – Die Cassette, der Wohltäter.“ Offenbar ein in dieser Zeit erfolgreiches Geschäftsmodell. Heute ist der Kleinanzeigenmarkt ebenso wie das Geschäft mit gespeicherten Daten fast nur noch online zu finden. Nicht nur mit der Technik, auch mit uns ging es damals weiter: Mit zunehmendem Pickel-Anteil im Gesicht wurde das mit den Disketten und Computerspielen bei uns weniger. Die Besuche in der &bdquo;Cassette“ aber nicht, schließlich nahm das Interesse an anderen Dingen zu. Zum Beispiel an Mädchen. Und weil ein damals von uns für todsicher gehaltener Weg ins Herz einer Mitschülerin über die Ohren führte, wurde &bdquo;Die Cassette“ aus anderen Gründen interessant. Denn hier gab es die damals legendäre TDK-SA-90 Leerkassette, wieder für einen wirklich guten Preis. &bdquo;Da habe ich damals manchmal zehntausend Stück auf einmal gekauft – da habe ich dann natürlich einen ganz anderen Preis bekommen. Einen Teil habe ich dann an andere Händler weitergegeben“, erzählt Peter Bredow. Der Walkman als Revolution Auf den Leerkassetten wurde dann aufgenommen, was das Zeug hielt. Aus dem Radio oder von der Platte, irgendwann dann auch von CDs. Was heute oft als &bdquo;Mixtape“ bezeichnet wird, wurde oft in stundenlanger Handarbeit zusammengestellt und verschenkt. Später kursierten dann sogar Kassetten, die heimlich in der Musikbox aufgenommen wurden. Dank Walkman war die Musik dann sogar immer dabei – eine Revolution. Mehr zum Thema: Mit dem Walkman war die Lieblingsmusik erstmals überall dabei Ende der 90er-Jahre erweiterete der Mindener Geschäftsmann dann gemeinsam mit neuen Kompagnons das Geschäft, Die Cassette erstreckte sich über fast die gesamte Fläche des heutigen Cafés. &bdquo;Die ganze Fassade bis zum Markt 15 war da voll mit Werbung“, erinnert sich Peter Bredow. Das Ende kam dann einige Jahre später: Nach einigem Hin- und Her wurde das Haus verkauft, und das heutige Victoria-Hotel entstand. Neben der Cassette musste auch das Traditions-Modegeschäft &bdquo;Christiane – Mode am Markt“ weichen. Ehemaliger Ladendieb zeigt sich reumütig &bdquo;Wir sind dann gemeinsam an den Stadtrand gewechselt, meine Kompagnons haben sich mehr auf den Bereich Netzwerktechnik und IT spezialisiert. Die Laufkundschaft hat gefehlt und ich bin da nicht glücklich geworden“, erzählt er. Und so zieht er sich zurück, um im Haus Markt 28, direkt an der Ecke zum ZOB einen E-Plus-Laden zu eröffnen – heute befindet sich hier zwischen dem überdachten Durchgang und Taxistand ein Kiosk. Auch dieser Laden läuft erfolgreich – sogar so gut, dass ihn Peter Bredow mit 62-Jahren gut verkaufen kann. &bdquo;Seit 15 Jahren bin ich jetzt Rentner“, sagt er. Vergessen haben ihn viele Mindener noch nicht. Als er sich vor einigen Jahren auf Facebook in einer Mindener Gruppe zu Wort meldet, gibt es viele Reaktionen - und natürlich Erinnerungen, an Spiele, Computer und die TDK-SA90. Und gar nicht lange her ist eine Situation im E-Center. &bdquo;Da hat mir ein Mann 20 Euro gegeben und gesagt, dass er bei mir vor vielen Jahren mal ein Computerspiel geklaut hat, dass er jetzt bezahlen möchte.“ Offenbar haben viele Menschen in Minden Erinnerungen an diesen kleinen Laden am Markt.

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