23 Jahre an der Nadel: Ex-Süchtiger will in Minden zweite Chance nutzen

Minden. Sven Döll hat in seinem Leben viele Fehler gemacht, sagt er selbst. Jahrzehntelanger Heroinkonsum, Beschaffungskriminalität und ein Leben auf der Straße haben ihn in die städtische Notunterkunft am Petershäger Weg direkt neben dem ehemaligen Schlachthof geführt. Doch er hat es geschafft, seine Sucht in den Griff zu bekommen. Dabei musste er stets gegen zahlreiche Widrigkeiten ankämpfen. Der 47-Jährige sitzt auf einem schlichten Schlafsofa, die Luft im vollgestellten, aber nicht vermüllten Zimmer ist schwer vom Tabakrauch. Gemeinsam mit einem Mann aus Syrien teilt er sich die 60-Quadratmeter-Wohnung. Er ist hektisch, redet schnell, raucht und erzählt viel, während er oft ohne Zusammenhang seine Geschichte erzählt. Der dünne Mann trägt eine abgenutzte Jogginghose, Schlappen und ein T-Shirt. Wenn ihm etwas wichtig ist, beginnt er mit den Armen zu gestikulieren, während er die Beine verschränkt. Dass er kaum eine Chance auf ein normales Leben hatte und dennoch alles versucht eine zu führen, wird deutlich, wenn man ihm zuhört. Eine verlorene Kindheit Kurz nach der Wende, 1991, kam Döll erstmals nach Minden. Seine Eltern waren aus Mecklenburg-Vorpommern hierhergezogen, ein richtiges Zuhause hatte er seitdem nicht mehr. Mit zwölf Jahren riss er von zu Hause aus und landete im Heim. Der Verlust seines älteren Bruders, der mit 14 Jahren kurz vor dem Ende der DDR ertrank, traf ihn tief. &bdquo;Er war alles für mich. Sein Tod hat meine Welt zusammenbrechen lassen“, sagt er leise. Seine Eltern, überwältigt von Trauer, suchten Trost im Alkohol und Zuflucht im Westen. &bdquo;Plötzlich sollte ich in einem Ort namens Todtenhausen in die Schule gehen. Schon den Namen mochte ich nicht“, sagt er und lacht bitter. Seine Eltern hätten sich damals jeden Abend bis zur Ohnmacht betrunken. &bdquo;Es hat sich niemand mehr um mich gekümmert. Ich war allein.“ Auf der Suche nach Halt kehrte Döll nach Mecklenburg-Vorpommern zurück, zu seinen Freunden. Doch dort hatte sich vieles verändert. &bdquo;Nach der Wende waren plötzlich Heroin und Junkies überall. Ich kannte das nicht, aber alle um mich herum nahmen es“, erinnert er sich. Zwei Jahre kam er bei Freunden unter, dann entdeckte ihn das Jugendamt und er kam in ein Heim. &bdquo;Offiziell bis 18 Jahre, aber eigentlich war ich früher schon wochenlang weg. Habe dreimal die siebte Klasse wiederholt, aber ich habe den Hauptschulabschluss geschafft.“ Mit 15 probierte er erstmals selbst Heroin aus. &bdquo;Dieser erste Rausch fühlte sich an, als wären alle Probleme verschwunden. Mollig warm, alles war so wattig und schön. Das wollte ich immer wieder.“ Der Abstieg in die Sucht Was als einmaliges Experiment begann, wurde schnell zur Abhängigkeit. &bdquo;Man wird nicht nur süchtig nach dem Stoff, sondern auch nach den Ritualen – dem Spritzen, dem Abbinden. Es wird zur täglichen Routine“, erklärt der 47-Jährige. Seine Heroinsucht dominierte sein Leben und führte ihn in Kriminalität und Obdachlosigkeit. &bdquo;Man kann die Sucht nicht finanzieren, ohne kriminell zu werden“, gibt er offen zu. Ladendiebstahl, Rezeptfälschung, Hausfriedensbruch – die Liste seiner Delikte ist lang. &bdquo;Ich war nie gewalttätig, aber ich habe viele Fehler gemacht. Für eine Packung Batterien und Milchreis habe ich mal neun Monate bekommen.“ Die Haftstrafen summierten sich. &bdquo;Mal zwei Jahre, mal drei Jahre. Aber eine echte Resozialisierung hat nie stattgefunden.“ Nach jeder Entlassung folgte der Rückfall. &bdquo;Innerhalb einer Woche war ich wieder drin. Die Versuchung war zu groß, und ich kannte nichts anderes.“ Für eine Familientherapie kehrte Döll Ende der 90er-Jahre zurück nach Minden und blieb diesmal dauerhaft, pendelte aber jahrelang zwischen Straße und Haft. &bdquo;Ich wurde oft beklaut, manchmal sogar angegriffen. Ich habe viele Leute sterben sehen, Freunde verloren. Hinter meinem Rücken ist jemand gestorben, einfach so.“ Er erlebte Gewalt und Leid hautnah. &bdquo;Es gibt keine Freundschaft auf der Straße, nur Leidensgenossen. Dein bester Freund beklaut dich, egal was er vor fünf Minuten gesagt hat.“ Manchmal sei sein Handy weg gewesen, obwohl er es nachts in den Schlafsack gesteckt habe, damit es nicht gestohlen wird. Ein Wendepunkt 2015 kam die entscheidende Wende. Nach einer weiteren Haftentlassung beschloss er, den Kreislauf zu durchbrechen und den Kontakt zu seinen alten Bekannten abzubrechen. &bdquo;Ich wollte nicht wieder rückfällig werden.“ Ein Arztbesuch veränderte sein Leben nachhaltig. &bdquo;Ich dachte über zehn Jahre lang, ich hätte Hepatitis C, wie die meisten Langzeitkonsumenten. Aber nach zwei Monaten Abstinenz waren die Tests negativ. Mir liefen die Tränen, und das war für mich das Signal: Ich bleibe clean.“ Er lebte weiterhin auf der Straße und begann trotzdem eine Methadon-Substitutionstherapie. &bdquo;Ohne das hätte ich es nicht geschafft“, sagt er. Es helfe beim körperlichen Entzug, schwierig sei aber das Psychische. &bdquo;Jetzt bekomme ich Zittern, wenn ich nur an Adern denke – nicht weil ich Bock habe, sondern weil ich Angst habe“, sagt er und zeigt zur Bestätigung seine zitternde Hand. Er fand schließlich eine Wohnung in der Mindener Altstadt, wo Vermieter nicht viele Fragen stellen. &bdquo;Ich war glücklich, hatte eine Freundin, einen Garten und beim Altstadtfest mitgeholfen.“ Doch dann kam die Corona-Pandemie. &bdquo;Während des ersten Lockdowns war alles zu. Ich dachte, dass ich auch nicht zur Bewährungshilfe muss.“ Er verpasste zwei Termine. &bdquo;Zweieinhalb der drei Jahre Bewährung waren um, aber das hat den Richter nicht interessiert – trotz Schreiben von meinem Arzt und meiner Freundin.“ Er musste erneut für neun Monate in Haft. &bdquo;Ich habe wieder alles verloren“, sagt er bitter. Seine Freundin verließ ihn, und nach der Haft lebte er erneut auf der Straße. &bdquo;Lieber Straße als Couchsurfing bei Bekannten. So fingen früher immer meine Rückfälle an.“ Zurück auf der Straße Zwei Jahre verbrachte Döll in den Straßen von Minden, meist in Geschäftseingängen. &bdquo;Im Winter war das besonders hart. Ich habe mir aus Kartons einen Unterschlupf vor Magic gebaut. Mit zwei Kerzen wurde es erstaunlich warm, weil weniger Sauerstoff da ist.“ Doch Polizei und Eigentümer vertrieben ihn immer wieder. Manchmal wurde er auch von Hausbesitzern geschlagen. &bdquo;Manche Polizisten schauen dann weg, andere helfen dir. Da gibt es solche und solche.“ Er landete schließlich in einem langjährigen Leerstand am Marktplatz. Die Isolation wuchs. &bdquo;Ich war immer allein unterwegs, um mich von Drogenabhängigen zu distanzieren. Viele nahmen es mir übel. Man kennt sich in der Szene, und ich wurde immer noch auf meine Vergangenheit reduziert.“ Die psychische Belastung war enorm. &bdquo;Ich war oft depressiv. Die ständige Unsicherheit und Sorge um die paar Sachen, die man noch hat, zermürbt einen.“ Insgesamt viermal wurde er aus dem Gebäude am Markt geworfen. &bdquo;Ich habe da fünf Monate hinter dem Bauzaun geschlafen. Von innen kann man durchgucken, aber von außen nicht rein“, erklärt er. Der Weg in die Notunterkunft Die Wende kam durch die Polizei, als er wieder einmal aus dem Gebäude entfernt wurde. &bdquo;Ein Polizist holte einen Mitarbeiter der Stadt dazu, der für Wohnungslose zuständig ist. Er hat mir ein Zimmer in der Notunterkunft hier verschafft.“ Doch auch hier gibt es Probleme. &bdquo;Ich wohne mit einem Mitbewohner zusammen, und jetzt soll noch ein Dritter einziehen“, habe ihm der Hausmeister erzählt. &bdquo;Das führt zu Stress.“ In seiner Verzweiflung hat er sich an das MT gewandt. Auf Anfrage der Redaktion dementiert das die Stadt aber: &bdquo;Das Haus verfügt über vier Wohnungen, die entweder mit einer oder zwei Personen belegt sind. Eine Belegung durch weitere Personen ist aktuell nicht geplant“, erklärt Stadtsprecherin Katharina Heß. Bereits jetzt seien die Zustände in der Unterkunft belastend: &bdquo;Die Heizung fiel im Winter oft aus, manchmal hatten wir unter 15 Grad. Schimmel im Bad, eine abgenutzte Küche – das macht einen psychisch fertig“, sagt Döll. In der Vergangenheit sei es &bdquo;vereinzelt“ vorgekommen, dass der Öltank leer gewesen ist, bestätigt die Stadt. Der Grund sei &bdquo;übermäßiges Heizen“, so Heß. &bdquo;Zudem gab es einen Fall, in dem festgestellt wurde, dass die Tür zum Heizungskeller aufgebrochen war und Heizöl abgepumpt wurde.“ Der Keller ist beim Besuch mit mehreren dicken Schlössern verriegelt. Bezüglich des Schimmels verweist die Stadt auf die Bewohner, welche die Schäden auch der Stadt melden müssen. Döll sagt dagegen, dass die Mitarbeiter der Stadt genervt von ihm seien, eben weil er sich meldet. &bdquo;Die fragen dann, warum immer ich anrufe. Na, weil die anderen hier gar kein Deutsch können.“ Mit seinem Mitbewohner komme er leidlich klar. &bdquo;Bis heute hat er nicht einmal das Bad sauber gemacht.“ Für ihn sei die Wohnung eine Zwischenstation. &bdquo;Mein Leben kann hier nicht wieder anfangen. Ich möchte wieder allein bestimmen, wie das Bad aussieht und eine Tür haben, zu der nur ich den Schlüssel habe.“ Der Blick nach vorn Seit zwei Jahren versucht er, eine eigene Wohnung zu finden. &bdquo;Aber das Amt spielt nicht mit.“ Nur wenige Vermieter kommen für ihn infrage. &bdquo;Ein arbeitsloser, alleinstehender Ex-Obdachloser und Ex-Junkie – da findest du keine Wohnung“, resigniert er. &bdquo;Ich verstehe das. Wenn ich der Vermieter wäre, würde ich mich auch nicht nehmen.“ Trotz aller Widrigkeiten hat Döll klare Ziele. &bdquo;Ich möchte clean bleiben, eine eigene Wohnung finden und mein Leben meistern.“ Seit er Bürgergeld erhält, hat er es geschafft, sich kleine Dinge anzusparen. &bdquo;Ich bin manchmal begeistert, wenn ich vor einem vollen Kühlschrank stehe und Auswahl habe. Für andere sind das Kleinigkeiten, aber ich hatte das zwanzig Jahre lang nicht.“ Seine Vergangenheit hängt ihm bis heute nach. &bdquo;In der Stadt darf ich mich nicht auf eine Bank setzen, weil die Polizei mich noch zur Szene zählt. Ich werde oft verdachtsunabhängig kontrolliert“, sagt er und lacht. &bdquo;Dabei habe ich schon vor 2020 das letzte Mal geklaut.“ Er hat eine neue Freundin, die ihm Halt gibt. &bdquo;Das hat mich stabilisiert. Wir suchen gemeinsam nach einer Wohnung.“ Beruflich möchte er wieder Fuß fassen. &bdquo;Ich habe viel handwerkliche Erfahrung, würde gern im Gartenbau oder als Hausmeister arbeiten. Ich möchte nicht auf der faulen Haut liegen.“ Sein größter Traum ist der Führerschein. &bdquo;Das würde mir so viel Freiheit geben. Aber ich hatte nie die Möglichkeit, das Geld zusammenzusparen. Früher habe ich jeden Euro in Drogen investiert.“ Er steht auf und schaut aus dem Fenster. &bdquo;Ich will hier weg“, sagt er entschlossen. &bdquo;Ich will ein normales Leben führen. Ich habe bereits so viel verpasst.“ Er schweigt kurz. &bdquo;Ich hatte Glück“, sagt er schließlich nachdenklich. &bdquo;Von tausend Süchtigen schafft es vielleicht einer, 23 Jahre an der Nadel zu hängen und noch zu leben. Ich will dieses zweite Leben nutzen.“

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