Nach versuchter Tötung in Minden: Polizei räumt Versäumnisse ein

Minden. Hat die Polizei Minden-Lübbecke Fehler bei den Ermittlungen rund um die versuchte Tötung eines inzwischen 36-jährigen Mannes aus Minden gemacht? &bdquo;Versäumnisse wurden erkannt“, teilt die Polizei gegenüber dem Mindener Tageblatt im Rahmen einer längeren Stellungnahme zu dem Fall mit. Doch diese wirft weitere Fragen auf. Und sie hinterlässt die Familie des Opfers fassungslos. Nicht zuletzt, weil das Leben ihres Angehörigen nach der brutalen Attacke in der Obermarktstraße am 3. März aufgrund schwerster gesundheitlicher Schäden wahrscheinlich nie wieder sein wird wie zuvor. Die größte Ungereimtheit: Warum ging die Polizei mehr als eine Woche lang davon aus, der Mann sei nur leicht verletzt, obwohl er von Anfang an auf der Intensivstation lag? Und warum kam es deshalb zu einer tagelangen Verzögerung, bevor schließlich eine Mordkommission gebildet wurde? Rückblick: Der 35-Jährige ist in besagter Nacht in einer Gastronomie zu Gast und feiert dort mit Freunden und Personen, die er nicht kennt. Dabei kommt es zu einem Streit, in dessen Folge zwei Personen des Lokals verwiesen werden. Darunter sind ein möglicher Mittäter und ein später leicht verletzter Mann aus Petershagen (28). Mindener wird aus dem Nichts von Gruppe attackiert Bevor der Mindener mit seiner Freundin den Nachhauseweg antreten will, verlässt er die Lokalität zunächst allein, um nach dem 28-Jährigen zu schauen. Aus dem Nichts attackiert ihn eine Personengruppe laut Polizei unmittelbar &bdquo;massiv körperlich“. Nach MT-Infos treten die Männer mehrfach gegen den Kopf des Opfers. Die Feuerwehr muss nach Abtransport des Zusammengetretenen anrücken und den Boden von dessen Blut befreien. Er zieht sich dabei schwerste Kopf- und Hirnverletzungen zu, wie die Krankenakte offenbart, die dem MT vorliegt. Eine sofort eingeleitete Fahndung nach der Personengruppe bleibt ergebnislos. &bdquo;Bis heute hat es keine Verhaftungen gegeben“, erklärt die nun im Rahmen der Mordkommission &bdquo;Obermarkt“ ermittelnde Polizei Bielefeld. Ärzte der Mühlenkreiskliniken retten das Leben des Mannes in den Tagen nach dem Vorfall mit zwei Notoperationen. Bilder von Gewalttat in Minden: Viele Hinweise auf Täter bei Polizei eingegangen &bdquo;Sein Zustand war von Tag eins im Krankenhaus lebensbedrohlich“, sagt die Schwester des Mannes. Diese Aussage deckt sich mit den in der Krankenakte dokumentierten Befunden der Ärzte auf Basis von CT-Aufnahmen des Kopfes unmittelbar nach der Tat. Das MT hat diese einem unabhängigen, mit dem Fall nicht betrauten Arzt vorgelegt. Dessen Einschätzung: Die Verletzungen waren unmittelbar nach erstem Befund lebensbedrohlich. &bdquo;Dass er lebt, grenzt an ein Wunder.“ Unzweifelhaft ist auf Basis der medizinischen Dokumentation: Von einer leichten Verletzung konnte von der Einlieferung in die Klinik an nie die Rede sein. Schwester des Opfers wies Polizei auf Lebensgefahr hin Das wirft Fragen an die Polizei auf. Ebenso die Aussage der Schwester, sie habe bereits am Tag nach der Tat und weitere zwei Tage später, am 6. März, sowohl persönlich bei der Polizeiwache an der Marienstraße, als auch telefonisch auf die Schwere der Verletzungen ihres Bruders und das Ausmaß der Tat aufmerksam gemacht. Das MT stellte der Polizei deshalb die Fragen, weshalb rund eine Woche nach den Hinweisen noch immer der Status &bdquo;leicht verletzt“ gegolten habe und wie es überhaupt zu der Fehleinschätzung gekommen sei. Außerdem wollte die Redaktion wissen, warum es trotz der Hinweise der Angehörigen so lange dauerte, bis – gerade mit Blick auf den Verletzungsgrad – angemessen reagiert wurde. Tatsächlich habe die Polizei die internen Abläufe in Zusammenhang mit dem Fall hinterfragt, betont Polizeisprecherin Alexandra Brakemann. Daran sei auch das Landeskriminalamt (LKA) beteiligt gewesen. Die tatsächliche Schwere der Verletzungen sei für die Beamten am Einsatzort unmittelbar nach der Tat nicht ohne Weiteres erkennbar gewesen. Zudem sei der Verletzte bis zum Abtransport im Rettungswagen ansprechbar gewesen, sodass es zur Einschätzung der leichten Verletzung kam, die entsprechend dokumentiert wurde. 35-Jähriger hatte bei Angriff in Minden viel Blut verloren Laut MT-Infos war der Mann nach der Attacke zunächst bewusstlos, dann tatsächlich wieder ansprechbar, im Rettungswagen aber immer wieder in eine Art Dämmerzustand gefallen. Der Einsatz der Feuerwehr zur Säuberung des Bodens deutet auf einen nicht unerheblichen Blutverlust hin. Lesen Sie auch: Nach versuchter Tötung in Minden-Lübbecke: Polizei stellt Beweismaterial sicher &bdquo;Abgesehen davon habe ich direkt am nächsten Tag und noch einmal zwei Tage später darauf aufmerksam gemacht, wie es um meinen Bruder steht“, so die Schwester. Sie unterstreicht ihre Aussagen mit einer eidesstattlichen Versicherung, die dem MT vorliegt. &bdquo;Der Vorgang wurde seitens der Fachdirektion aufgrund der vermeintlich leichten Verletzung nicht priorisiert behandelt“, heißt es von der Minden-Lübbecker Polizei. Erst zehn Tage nach der Attacke habe sich am 13. März auf Nachfrage beim Johannes-Wesling-Klinikum bestätigt, dass sich der Mann aufgrund der erlittenen Verletzungen mittlerweile in Lebensgefahr befand. Eine explizite Antwort darauf, weshalb es nach den Hinweisen der Familie nicht schon deutlich eher zu eben jener Nachfrage kam, gibt die Polizei nicht. Mit schwersten Verletzungen auf der Intensivstation Die Familie des Mannes kann das nicht nachvollziehen. Eine andere Aussage der Polizei macht die Angehörigen wütend und enttäuscht sie: &bdquo;Anzumerken ist, dass es dem Mann bis zum 7. März den Umständen entsprechend gut ging. Der Gesundheitszustand verschlechterte sich unseren Erkenntnissen nach erst im Laufe des 7. März dramatisch, sodass am 8. März aufgrund akuter Lebensgefahr notoperiert werden musste.“ Diese Aussage ist auf Basis der Behandlungsakte nicht haltbar. Der Patient befand sich vom ersten Moment an mit schwersten Verletzungen, unter anderem einem Schädelbruch, auf der Intensivstation. Die Einschätzung der Ärzte deutet auf nichts hin, das sich als &bdquo;den Umständen entsprechend gut“ interpretieren ließe. Korrekt ist, dass der ohnehin heikle Gesundheitszustand sich so weit verschlechterte, dass am 8. März selbst eine risikoreiche Operation als geboten erschien, da der Tod des Mannes andernfalls wohl nicht hätte abgewendet werden können. So oder so: Bis zur Einrichtung der Mordkommission dauerte es vom OP-Tag an noch fünf weitere Tage. &bdquo;Wie kann man bei solchen Verletzungen, die mein Bruder von Tag eins hatte, und dem Fakt, dass er auf einer Intensivstation lag, davon sprechen, dass es ihm den Umständen entsprechend gut ging?“, fragt sich die Schwester ebenso wie der Rest ihrer Familie. Kein Kontakt zwischen Ermittlern und Klinikum nach OP Die Polizei hingegen beharrt darauf, dass eine frühere Nachfrage im Krankenhaus &bdquo;keine andere Einschätzung des Sachverhalts nach sich gezogen“ hätte, heißt es in der Stellungnahme. Was allerdings selbst die Behörde kritisch sieht: &bdquo;Warum ein Austausch hinsichtlich des sich stark verschlechternden gesundheitlichen Zustandes nicht stattgefunden hat, konnte nicht abschließend geklärt werden.“ Schließlich hatte es auch nach der ersten und schließlich auch nach einer zweiten lebensrettenden OP keinen Kontakt zwischen Ermittlern und Klinikum gegeben. Selbstkritisch merkt die Polizei an, dass die Schuld nicht beim Krankenhaus gesucht werden dürfe: &bdquo;Die Polizei Minden-Lübbecke vertritt die Auffassung, dass die Verantwortung für die erforderlichen Ermittlungstätigkeiten der Polizei nicht beim Mindener Klinikum gesucht werden darf.“ Gleichwohl werde ein ergänzender Austausch mit regionalen Krankenhäusern mit dem Ziel der Sensibilisierung als sinnvoll erachtet. Es geht offenbar darum, die Kommunikation in solchen und ähnlichen Fällen in Zukunft zu verbessern. Die Kreispolizeibehörde betont, dass sie die Abläufe aufgearbeitet habe: &bdquo;Der vorliegende Sachverhalt wurde in einer Nachbereitung durch die beteiligten Kräfte erörtert, Versäumnisse wurden erkannt und Lösungsvorschläge erarbeitet.“ Polizei erkennt kein strukturelles Problem innerhalb der Behörde Ein &bdquo;organisatorisches oder strukturelles Problem innerhalb unserer Behörde“ sei nicht zu identifizieren gewesen, beharrt die Polizei. Die bei der Nachbearbeitung erarbeiteten Lösungsansätze seien seitens des LKA als zielführend und ausreichend erachtet worden. Mit Blick auf die Lösungsansätze heißt es: &bdquo;Zukünftig wird sichergestellt, dass eine zeitnahe Ermittlung des Verletzungsgrads nach Körperverletzungsdelikten erfolgt. Damit soll eine möglichst korrekte Erfassung des Gesundheitszustandes sowie eine einhergehende (strafrechtliche) Bewertung des Sachverhalts schon bei Vorgangserstellung gewährleistet werden.“ Ob das frühere Einsetzen einer Mordkommission zu besseren Ermittlungsergebnissen geführt hätte, bleibt unklar. Lesen Sie auch: Nach Angriff in Mindener Innenstadt: Mordkommission ermittelt wegen versuchter Tötung Die Familie des Opfers ist mehr als drei Monate nach der Tat enttäuscht von der Arbeit der Polizei – und der nun abgegebenen Erklärung. &bdquo;Es ist eine Frechheit und absurd“, sagt die Frau mit Blick auf die wegen der falschen Priorisierung verzögerten Ermittlungen seitens der Polizei Minden-Lübbecke unmittelbar nach der Tat: &bdquo;Wir fühlen uns und den Fall nicht ernst genommen.“ Ihrer Meinung nach hätten die Täter gefasst werden können: &bdquo;Zumal es von Beginn an eindeutige Hinweise gab.“ Schwester wünscht sich gerechte Strafe für die Täter Dass die Polizei sich bisher nicht für die Versäumnisse entschuldigt hat, sei eher nebensächlich. Eine Nachfrage des MT zu diesem Punkt blieb unbeantwortet. Die Schwester wünscht sich nur eines: &bdquo;Gerechtigkeit. Gerechtigkeit für meinen Bruder und die gerechte Strafe für die Täter.“ Nach denen wird seit dem 22. April mit Fotos, die während der Tat entstanden waren, öffentlich gefahndet. &bdquo;Es sind viele wertvolle Hinweise dazu eingegangen“, heißt es aus dem Polizeipräsidium Bielefeld, das die Ermittlungen am 14. März mit einer Mordkommission übernommen hat. Dass es noch keine Festnahmen gegeben hat, sei nicht ungewöhnlich, wie Sprecherin Caroline Steffen mitteilt: &bdquo;Die meisten Angeklagten, gegen die prozessiert wird, sind zuvor noch auf freiem Fuß.“ Das bedeutet, dass den sechs Männern, die auf den Aufnahmen zu sehen sind, womöglich auch ohne U-Haft der Prozess gemacht werden könnte. &bdquo;Das entscheidet sich nach dem Abschluss der Ermittlungen“, so Steffen. Laut MT-Infos sind der Polizei mehrere Namen potenzieller Täter bei Aussagen genannt worden, mindestens zwei Personen sollen sicher identifiziert worden seien. Zwei mutmaßliche Täter halten sich außerhalb von Minden auf Wie aus deren erweiterten Umfeld zu hören ist, könnten sich die zwei Männer aktuell fernab von Minden aufhalten. Sie wurden schon länger nicht mehr gesehen, heißt es. Ob die Verzögerungen bei den polizeilichen Ermittlungen diesen Zustand begünstigt haben, bleibt letztlich Spekulation. &bdquo;Ich könnte mir vorstellen, dass sie sich längst abgesetzt haben“, sagt die Schwester des Opfers, wenngleich sie nach den ersten positiven Erfahrungen mit Beamten der Mordkommission der Arbeit der Polizei noch immer vertraut. Gerade mit Blick auf die vorliegenden Aufnahmen und Namen potenzieller Täter fragt sie: &bdquo;Wie kann es sein, dass bisher niemand verhaftet worden ist?“

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