Mord an schwangerer Mutter in Minden: So geht es ihrer Schwester zehn Jahre später

Minden. Es ist warm an diesem Abend im Mai 2014. Nadine hat sich umgezogen nach dem spontanen, gemeinsamen Grillen mit der Familie und sich zu Hause eine Zigarette angezündet. Normalerweise raucht sie auf dem Balkon. Warum sie das in der Küche macht, weiß sie heute nicht mehr. Dabei erinnert sie sich ansonsten an alle Details jenes Tages, sie haben sich ihr eingebrannt. Plötzlich hört sie draußen die beiden Kinder ihrer jüngeren Schwester Ann-Christin, genannt Anni. Sie rufen, dass ihre Mutter blute. Nadine läuft ins Nachbarhaus, die Wohnung ihrer Schwester befindet sich gleich nebenan in Bärenkämpen. Sie glaubt zunächst, dass irgendwas mit dem Baby sein könnte, Anni ist seit ein paar Wochen schwanger. Dass sie falsch liegt, merkt Nadine vor Ort recht schnell. &bdquo;Als ich sie sah, wusste ich sofort, was passiert ist“, erinnert sie sich heute, ein Jahrzehnt später. Die Obduktion stellt hinterher 31 Messerstiche fest. Nadine bringt die Kinder zu Nachbarn, sagt ihrer Schwester, dass es ihnen gut geht und begleitet sie in ihren letzten Lebensminuten. Die Einsatzkräfte können bei ihrem Eintreffen nichts mehr für Anni machen. An diesem Mittwochabend, dem 21. Mai 2014, endet das Leben der 28-Jährigen und das ihres ungeborenen Babys. Zwei Kinder verlieren eine Mutter, Eltern eine Tochter, Geschwister eine Schwester und Freunde eine lieb gewonnene Frau. Ende der Haftzeit des Täters kommt näher Zehn Jahre sind inzwischen vergangenen. Heute würde man solch ein Verbrechen an einer Frau einen Femizid nennen, damals war der Begriff noch nicht geläufig. Nadine hat sich bereit erklärt, über die Folgen zu sprechen. Zum einen möchte sie an ihre Schwester erinnern. Zum anderen haben sich in den vergangenen Monaten wieder Ängste verstärkt. Denn: Das Ende der Haftzeit des Täters kommt näher. Was geschieht, wenn der Mörder ihrer Schwester wieder auf freiem Fuß ist? Wird er sie und ihre Familie aufsuchen wollen? Was passiert, wenn sie ihm wieder begegnet? Es sind Fragen wie diese, die sie beschäftigen. Verantwortlich für den Verlust der Familie ist Ridvan M. Nachdem er auf seine Ex-Freundin eingestochen hatte, stellt sich der damals 24-Jährige wenige Zeit später der Polizei und legt ein Geständnis ab. Im November 2014 verurteilt das Landgericht Bielefeld den in der Türkei geborenen und in Deutschland aufgewachsenen Kurden wegen des Mordes aus niederen Beweggründen zu einer lebenslangen Haftstrafe. Im Prozess stellt sich heraus, dass seine Familie die Beziehung zu der geschiedenen und alleinerziehenden 28-Jährigen missbilligt hat. Eine Heirat mit einer Kurdin war bereits arrangiert, 1.000 Gäste waren geladen. Deswegen soll er von Anni gefordert haben, das gemeinsame Kind abzutreiben. Doch sie entschied sich dagegen und beendete die Beziehung, bis er ihr auflauerte, die Tür eintrat und sie im Beisein der Kinder umbrachte. Schwester hat das Sorgerecht für die Kinder Ridvan M. sitzt nach wie vor in einem deutschen Gefängnis. Er hat die härteste Sanktion des deutschen Strafgesetzbuchs erhalten und muss die kompletten fünfzehn Jahre hinter Gittern verbüßen. Danach könnte sein Leben von vorne beginnen. Ein Neuanfang ist für die Angehörigen nicht so einfach möglich: Nach der Tat hat die 41-Jährige die beiden Kinder ihrer Schwester bei sich aufgenommen und nach Absprache mit dem Kindsvater das Sorgerecht erhalten. Ihr Nachname soll nicht genannt werden, auch die Namen und das Alter der Kinder nicht. Sie sind inzwischen Teenager, Nadine möchte sie schützen. &bdquo;Ich liebe sie wie meine beiden anderen leiblichen Kinder – sie wurden mir geschenkt, auch wenn ich sie selbstverständlich eher bei meiner Schwester gesehen hätte.“ Den Kindern blieb eine Aussage bei der Polizei und am Gericht erspart, sie haben Hilfe von Psychologen bekomme. &bdquo;Wir haben sie stabilisiert“, sagt Nadine, sie selbst habe Unterstützung anfordern müssen. Früher hat sie im Seniorenheim gearbeitet, seit dem Tag vor zehn Jahren kann sie das nicht mehr und bezieht Erwerbsminderungsrente. Mord hat das Leben der Familie komplett verändert Die Ärzte haben bei ihr eine posttraumatische Belastungsstörung diagnostiziert. Laut einer Plattform des Bundesministeriums für Gesundheit entsteht diese psychische Erkrankung aufgrund eines Traumas, ausgelöst durch Katastrophen, Gewalterfahrungen oder Missbrauch. Typisch sei, dass das Erlebte Betroffene nicht loslasse und die belastenden Erinnerungen immer wiederkehren würden. &bdquo;Man kann das nicht vergessen, wir können trotz aller Therapien nicht geheilt werden und müssen lernen, damit umzugehen“, sagt die vierfache Mutter. Für alle in der Familie habe sich das Leben mit Annis Mord komplett verändert. &bdquo;Ich habe Panik, wenn das Telefon nachts klingelt und kann nicht unter vielen Menschen sein.“ Draußen würde sie immer nach hinten schauen. Einen Zug könne sie nicht nutzen. &bdquo;Wenn ich ins Restaurant gehe, suche ich mir den Platz, von dem ich am besten flüchten könnte.“ Auch das Duschen sei ein Problem und erinnere sie häufig an die Gewalttat im Bad ihrer Schwester. Zudem feiere sie ihren Geburtstag kaum noch. &bdquo;Damals hat Anni immer direkt um Mitternacht angerufen und mir bei den Vorbereitungen geholfen.“ Gewisse Musik oder Filme könne sie nicht mehr hören und sehen. &bdquo;Früher habe ich gerne die Serie &bdquo;Law & Order“ geschaut, aber das kann ich jetzt nicht.“ Darin werden Morde und andere Gewaltverbrechen aufgeklärt. Zudem habe sie Angst vor Verlusten, Schlaf- und Konzentrationsstörungen sowie Depressionen. Und dennoch sagt sie: &bdquo;Wir müssen irgendwie das Beste daraus machen - ich muss stark sein.“ Eine Entschuldigung gab es nie Häufig stelle sie sich vor, wie es wäre, wenn ihre Schwester noch leben würde. Ihr selbst würden oft die Tränen kommen. Bei Anlässen wie der Einschulung oder bei sportlichen Erfolgen ist es besonders schwer, dass die Mutter fehlt. &bdquo;Jemand hat zugelassen, dass sie das alles nicht mit ihren Augen sehen kann.“ Häufig denkt sie sich auch, dass das alles nicht sein könne: &bdquo;Es ist unfassbar, aber es ist doch passiert.“ Mit den beiden Kindern spricht sie immer wieder über ihre Schwester: &bdquo;Beide sollen sie niemals vergessen, sie gehört zu ihnen.“ Nadine beschreibt Anni als einen tollen, mutigen und sozialen Menschen. &bdquo;Im Kindesalter haben wir, wie es so üblich ist, viel gestritten, später haben wir uns richtig gut verstanden und konnten über jeden Mist herzlich gemeinsam lachen.“ Im Laufe der Zeit hat Nadine sich auch viele Schuldvorwürfe gemacht. Ihre Schwester habe eine Woche vor der Tat bereits bei ihr geschlafen und von einer gewissen Angst berichtet. &bdquo;Warum hat sie nicht an dem Tag auch bei mir geschlafen? Weshalb sind wir nicht länger zusammen beim Grillen geblieben?“, hat sie sich danach gefragt. Irgendwann hat die 41-Jährige jedoch verstanden, dass es nur einen Schuldigen für das Drama geben könne - den Täter. &bdquo;Da kommt einer und meint, alles zerstören und alle aus dem Leben reißen zu müssen.“ Eine Entschuldigung von ihm und seiner Familie sei nie gekommen, vor Gericht schwieg er fast durchgehend. Hasst sie ihn? &bdquo;Es gibt viele Gefühle, die ich für ihn habe.“ Aber eigentlich wolle sie gar nichts für ihn fühlen. &bdquo;Ich will einfach nur, dass er nicht mehr mein Leben kontrolliert.“ Er würde seine Strafe absitzen und könne mit nicht einmal 40 Jahren von vorne beginnen. &bdquo;Wir dagegen können niemals abschließen.“ Aus der Gegend des Tatortes weggezogen Das Mehrfamilienhaus, in dem sich die Tat ereignete, meide sie. Wenige Monate danach zog sie aus der Gegend mit den Kindern um. Manchmal müsse sie aufgrund von Baustellen unfreiwillig dort entlang fahren. &bdquo;Dann will ich nur schnell weg.“ Lobende Worte hat sie für das Jugendamt und das Team vom Jugendhaus-Geschwister-Scholl in Bärenkämpen. &bdquo;Die haben uns wirklich unterstützt, wie viele andere auch.“ Nadine glaubt fest, daran, dass sie ihre Schwester irgendwann wiedersehen wird. &bdquo;Sie schaut auf uns, da bin ich mir sicher.“ Nadine würde gerne noch einmal mit ihr zusammen lachen können. Wichtig war für sie, dass sie ihrer Schwester noch sagen konnte, den Kindern gehe es gut. Manchmal sei das Leben, etwa im Urlaub, trotz des Verlustes schön. Sie wünscht sich, dass die Kinder gesund bleiben und sie alle einen einzigen unbeschwerten Tag erleben könnten. Wie sie den zehnten Todestag gestalten werden, möchte sie spontan entscheiden. Auf ihrem Arm hat sie sich den Namen von Anni tätowieren lassen. Neben Engelsflügeln steht da auch der Spruch: Life will never be the same - das Leben wird nicht mehr dasselbe sein.

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