200 Anrufe für einen Platz: Betreuung von Minderjährigen stellt Jugendämter vor große Probleme

Kreis Minden-Lübbecke. Volle Wohngruppen, fehlende Fachkräfte, steigende Fallzahlen: Die Jugendämter im Kreis Minden-Lübbecke haben große Probleme, Jugendliche in stationären Einrichtungen unterzubringen. Viele Ämter sind am Limit, müssen aber ihre Pflichtaufgabe erfüllen und dabei improvisieren. Besonders prekär gestaltete sich die Situation zuletzt in Porta Westfalica. Jugendamtsleiter Jens Kütenbrink schildert einen Fall, der den Mitarbeitern des Jugendamtes sicher noch lange im Gedächtnis bleiben wird: &bdquo;Wir haben für einen 14-Jährigen neulich mehr als 200 Einrichtungen in ganz Deutschland abtelefoniert“, erzählt der Leiter im Gespräch mit dem &bdquo;Mindener Tageblatt“. &bdquo;Derzeit gibt es kaum noch eine Chance, Jugendliche in stationären Einrichtungen unterzubringen. Nach mehr als 200 Telefonaten hätte eine der Mitarbeiterinnen dann doch noch Glück gehabt - glaubte sie zumindest. Denn was dann folgte, erschrak sogar die erfahrenen Jugendamtsmitarbeiter: &bdquo;Das Angebot für den noch freien Platz war finanziell unverschämt: Wir sollten 800 Euro am Tag dafür zahlen“, berichtet Kütenbrink. &bdquo;Da hat sich ein richtiger Markt wegen der knappen Plätze entwickelt. Manche Leistungserbringer neigen dazu, unmoralische Dinge zu tun.“ Solche Fälle seien deprimierend, zumal das Portaner Jugendamt bis vor Kurzem mit einem eklatanten Personalmangel zu tun hatte und solche langwierigen Versuche für die Suche von Heim- oder Wohngruppenplätzen viel Zeit kosten. 83 Fälle von stationärer Unterbringung hatte die Stadt Porta Westfalica im August dieses Jahres zu stemmen, elf mehr, als noch zu Jahresbeginn. Und der Ausblick ist weiterhin düster: &bdquo;Die Fälle steigen weiter. Und dazu kommt, dass immer mehr Träger aus Porta Westfalica Plätze für die Auslagerung von Bewohnern suchen“, schildert Kütenbrink. Das verschärfe die Situation. Eine Anfrage zu den Kosten steht noch aus. Minden sucht deutschlandweit nach Plätzen &bdquo;Aktuell sind viele Jugendhilfeeinrichtungen voll belegt und können keinen freien Platz anbieten. Anfragen werden bereits auf ganz Deutschland ausgeweitet“, erklärt Susann Lewerenz, Sprecherin der Stadt Minden. Die Fallzahlen steigen weiter. Waren es im vergangenen Jahr noch 94 Kinder sowie 21 junge Erwachsene, die das Jugendamt untergebracht hat, sind es in diesem Jahr zum Stand September bereits 106 Kinder und 20 junge Erwachsene - schon jetzt elf mehr als im Vorjahr. Die Zahl kann sich bis Jahresende noch erhöhen. Wo werden die jungen Menschen untergebracht? &bdquo;Es gibt zum Beispiel kleine, familienähnliche Einrichtungen und Einrichtungen, die stärker auf Jugendliche ausgerichtet sind. Auch die pädagogischen und therapeutischen Leistungen sind unterschiedlich sowie die Gruppengröße und der Personalschlüssel“, erläutert Lewerenz. &bdquo;Vielfach wird versucht, junge Menschen möglichst wohnortnah unterzubringen.“ Doch das gelingt nicht immer. Konkrete Kosten nennt die Stadt Minden auf Nachfrage nicht. Diese würden von Fall zu Fall variieren - je nach Art der Unterbringung und Aufwand. Die Gesamtkosten für die Unterbringung steigen Steigende Zahlen verbucht auch die Nachbarstadt Bad Oeynhausen. 41 Fälle waren es bisher in diesem Jahr, 37 im gesamten Vorjahr, schildert Sprecher Volker Müller-Ulrich. Jeder Fall ist wieder eine Herausforderung: &bdquo;Aufgrund der allgemeinen Situation von freien Trägern in der stationären Jugendhilfe ist die Suche nach freien Plätzen erschwert“, erklärt der Stadtsprecher. Die Stadt Bad Oeynhausen sieht sich immer öfter damit konfrontiert, dass Träger aufgrund von Personalmangel ganze Gruppen schließen müssen und damit keine neuen Kapazitäten schaffen können - ein bundesweites Problem. Im Jahr 2022 hat die Stadt Bad Oeynhausen etwas mehr als zwei Millionen Euro für diese Unterbringungen gezahlt. In diesem Jahr sind bisher 1,9 Millionen Euro verbucht, die Jahresabrechnung steht noch aus und dürfte vermutlich höher ausfallen. Die Gesamtkosten steigen immer weiter, weil unter anderem die Personalkosten ansteigen, schildert Müller-Ulrich. Außerdem wird auch die Unterbringung an sich immer teurer. Die Inflation spiele ebenso in die Preisgestaltung hinein. &bdquo;Wir sind weiterhin am Limit“ Auch der Kreis Minden-Lübbecke hat große Probleme, junge Menschen in Wohngruppen der stationären Jugendhilfe unterzubringen, berichtet Daniela Pieper, die stellvertretende Leiterin des Kreisjugendamts. &bdquo;Wir sind weiterhin am Limit. Es gibt keine Entspannung.“ Sie hatte gegenüber der Politik bereits im vergangenen Jahr auf diese prekäre Entwicklung aufmerksam gemacht. Ein Hauptproblem sei nach wie vor der Fachkräftemangel. Einige freie Träger wären bereit, neue Wohngruppen zu eröffnen und zusätzliche Betreuungsplätze zu schaffen. &bdquo;Sie finden allerdings kein Personal.“ Die Lage auf dem Immobilienmarkt sei ebenfalls angespannt, geeignete Grundstücke für neue Wohngruppen seien Mangelware, sagt Pieper. Auch die steigende Anzahl an unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen, die nach Deutschland kommen, spiele bei dem Thema eine Rolle. Diese würden den Kreisen und Kommunen zugeordnet und müssten versorgt werden, stellt sie klar. Das erhöhe den Druck in einer ohnehin schon angespannten Situation. 500 Betreuungsplätze gibt es in Minden-Lübbecke Im gesamten Kreis Minden-Lübbecke gibt es laut Pieper rund 500 Plätze in der stationären Jugendhilfe, im Bezirk des Kreisjugendamtes (ohne Minden, Porta Westfalica und Bad Oeynhausen) sind es etwa 330. Auf dem Papier seien die Zahlen ausreichend, doch in der Realität reichten sie nicht aus, sagt Pieper: &bdquo;Das ist ein bundesweites Problem.“ Die Angebote – von einer 24-Stunden-Betreuung über betreutes Wohnen bis hin zu Mutter-Kind-Plätzen – halten verschiedene Träger vor, im Mühlenkreis zum Beispiel die Elsa-Brandström-Jugendhilfe Minden des DRK, die Diakonie Stiftung Salem oder auch die Evangelische Stiftung Gotteshütte in Porta Westfalica. Besonders schwierig sei für das Kreisjugendamt die Vermittlung, wenn Kinder kurzfristig und ohne Vorlaufzeit aus den Familien genommen werden müssen. In diesen nicht planbaren Fällen müssten sich alle verfügbaren Fachkräfte im Jugendamt ans Telefon setzen und Einrichtungen abtelefonieren, um auf die schnelle eine Unterbringung sicherzustellen, verdeutlicht Pieper. 60, 70 Anrufe sind dann die Regel. In Minden gibt es auch Notfallplätze für solche Fälle, die werden aber auch für das Jugendamt der Stadt vorgehalten und seien entsprechend ausgelastet. Bislang habe das Kreisjugendamt die Vermittlung der Jugendlichen in solchen Ad-hoc-Fällen immer noch am selben Tag sicherstellen können – &bdquo;allerdings nur unter großer Kraftanstrengung“, betont Daniela Pieper. Hotelzimmer und Notfallschlafplätze als letzte Rettung Sie weiß aber von anderen Jugendämtern in der Region, die auch schon Hotelzimmer hätten buchen müssen oder auf Notschlafplätze zurückgreifen mussten. Auch das Kreisjugendamt hält in Lübbecke zwei Betten für einen Mitarbeiter und ein Kind für absolute Sondersituationen vor – &bdquo;die haben wir aber zum Glück noch nicht benötigt.“ Die stellvertretende Amtsleiterin betont: &bdquo;Auch für die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sind solche Krisensituationen eine große Herausforderung.“ Sind die Kinder noch sehr klein, werden sie in Bereitschaftspflegefamilien untergebracht. Etwa ab dem Grundschulalter sollen sie in Wohngruppen versorgt werden. Den Schwerpunkt bilden die Elf- bis Zwölfjährigen, wobei die Altersspanne bei der Versorgung bis etwa 15, 16 Jahre reicht. 11,4 Millionen Euro plant der Kreis Minden-Lübbecke ein Für die stationäre Betreuung vereinbaren die Träger mit den Jugendämtern Tagessätze. Im Kreisjugendamtsbezirk kostet ein Platz pro Monat im Durchschnitt 7.800 Euro, berichtet Pieper. Im Haushaltsjahr 2023 plant der Kreis Mittel von rund 11,4 Millionen Euro für die Unterbringung ein, der Plan für 2024 sieht rund 11,9 Millionen Euro vor. Bevor das Jugendamt einen Platz in einer anderen Einrichtung außerhalb des Kreisgebiets annimmt, lässt es sich die Entgeltverordnung vorlegen, um Klarheit über die Kosten zu haben. Wenn das Amt für Kind keinen Platz in einer Regel-, sondern lediglich in einer spezialisierten Wohngruppe findet, könnte die Versorgung teurer werden, so Pieper. In solchen Fällen habe aber Priorität, die Kinder und Jugendlichen zunächst einmal unterzubringen. Für das Jahr 2022 hat das Kreisjugendamt 126 Fälle dokumentiert, für das Jahr 2023 liege die Zahl bei 129 – der Bedarf ist also gleichbleibend hoch. Vom Mühlenkreis wird in eine Einrichtung in Bayern Wie schwierig und herausfordernd die Vermittlung ist, zeigt ein aktueller Fall. Der zehnjährige Simon (Name geändert) lebt bereits von klein auf bei einer Pflegefamilie. Er hat Beeinträchtigungen, weil seine Mutter während der Schwangerschaft Alkohol getrunken hatte. Mit zunehmendem Alter stiegen seine Aggressionen, was den Alltag der Pflegefamilie erschwerte. Vor Kurzem eskalierte die Situation derart, dass die Pflegeeltern die Reißleine zogen. Der Junge kam zunächst in einer Kinder- und Jugendpsychiatrie in Bad Salzuflen unter, &bdquo;er brauchte ein professionelles Setting“, erklärt Daniela Pieper. Parallel dazu telefonierte das Kreisjugendamt verschiedene Einrichtungen ab, um einen Betreuungsplatz für den Jungen zu bekommen. Ergebnis: Eine einzige heilpädagogische Einrichtung in Augsburg bot an, eine Betreuung zu prüfen. Zwei Fachkräfte flogen mit dem Kind nach Bayern und brachten ihn in die Einrichtung. Diese erklärte sich schließlich bereit, den Zehnjährigen aufzunehmen. Sowohl für die Mitarbeitenden als auch für das Kind sei dies eine schwierige Zeit gewesen, gibt Pieper zu: &bdquo;Das war enormer Stress.“ Das Jugendamt begleitet den Fall weiter, hält Kontakt zur Einrichtung und besucht das Kind. &bdquo;Der Kreis bleibt zuständig“, fasst Pieper zusammen. Eine Chance für Quereinsteiger Wie könnte die Betreuungssituation in der Jugendpflege verbessert werden? Daniela Pieper lobt einen ersten Schritt des Lands NRW, um dem Fachkräftemangel entgegenzuwirken. Ein Maßnahmenpaket des Ministeriums sehe vor, dass andere Berufsgruppen als Quereinsteiger in der stationären Jugendhilfe mit entsprechender Zusatzqualifikation eingestellt werden dürfen, um für Entlastung zu sorgen. Das könnten zum Beispiel Lehrer, Hebammen oder auch Pflegefachkräfte sein. Die hiesigen Träger sehen diesen Vorstoß grundsätzlich positiv, habe sie nach ersten Gesprächen als Tenor vernommen. Jetzt müsse man prüfen, wie die Neuregelung vor Ort umgesetzt werden könne, sagt Pieper. Es sei keine große Lösung für das strukturelle Problem, aber: &bdquo;Es ist ein Schritt in die richtige Richtung.“

Meistgelesen