Verstopfte Beatmung, falsche Medizin: Hintergründe zu Altenheim-Schließung in Minden-Lübbecke

Minden. Notarzt und Rettungsdienst rücken in den Grillepark aus. Eine Bewohnerin der Medicare-Seniorenresidenz kämpft mit akuter Luftnot. Der Notarzt entfernt sofort die Trachealkanüle der 53-Jährigen. Der Kunststoffschlauch, der für die Beatmung in einen Luftröhrenschnitt eingesetzt wird, ist offenbar durch Sekrete verstopft. Der Mediziner erstattet daraufhin am 4. August 2022 eine Anzeige gegen Unbekannt bei der Polizei. Seiner Ansicht nach hätte die verkrustete Kanüle dem Pflegepersonal auffallen müssen. Die Staatsanwaltschaft übernimmt die Ermittlungen, stellt das Verfahren vier Monate später aber wieder ein. Laut Staatsanwalt Christopher York habe man keine Pflegekraft ermitteln können, die konkret für den Zwischenfall verantwortlich war. Dieser Fall ist einer von vielen Gründen, warum die Heimaufsicht des Kreises die Schließung des Altenheims auf Grundlage des Wohn- und Teilhabegesetzes (WTG) angeordnet hat. Das ist der letzte Schritt der Aufsichtsbehörde, wenn alle Beratungen und Auflagen nichts bringen. Zuletzt hatte es in Minden-Lübbecke eine solche Anordnung aufgrund von Pflegemängeln im Jahr 2010 gegeben. Nun, etwa 13 Jahre später, musste die Heimaufsicht erneut einschreiten. Die Behörde begründete die Untersagungsverfügung zunächst mit &bdquo;massiven Mängeln in der Pflege". Auf wiederholte Nachfrage des Mindener Tageblatts geht der Kreis nun aber ins Detail und nennt mehrere Rettungseinsätze. Zu den Hintergründen äußert sich Medicare nicht Die Frau, die an der verstopften Kanüle zu ersticken drohte, war demnach kein Einzelfall. So kam es bei einem anderen Bewohner zu einer Blutzuckerentgleisung. &bdquo;Nach einer entgegen der ärztlichen Anordnung erfolgten Insulingabe", informiert Kreis-Sprecherin Dagmar Selle. Pflegekräfte gaben dem Mann noch in zwei weiteren Fällen ohne eine ärztliche Anordnung Insulin. In beiden Fällen musste der Bewohner ins Krankenhaus. Zu den Hintergründen der Vorfälle äußert sich Medicare nicht. Konzern-Sprecherin Christina Bay sagt aber: &bdquo;Für uns stehen Qualität in der Pflege und das Wohlbefinden unserer Bewohner an oberster Stelle. Unsere Mitarbeiter geben dafür täglich ihr Bestes. Wie überall lassen sich Zwischenfälle aber leider nicht immer ausschließen. In solchen Fällen arbeiten wir diese jedoch sehr sorgfältig auf, mit dem Ziel uns in der Pflege stetig weiterzuentwickeln und zu verbessern." Der Mangel im Umgang mit insulinpflichtigen Diabeteserkrankungen ist seit Jahren ein Thema in dem Medicare-Altenheim. Es ist eine von mehreren pflegetypischen Aufgaben, die &bdquo;mangelhaft und zum Teil sogar gesundheitsgefährdend erledigt wurden", so die Heimaufsicht. Weitere Beispiel seien zu späte oder falsche Katheterwechsel, ein fehlerhaftes Wundmanagement und ein mangelhafter Umgang mit Schmerzen der Bewohner. Die Vorbeugung von Druckgeschwüren (Dekubitusprophylaxe) ist laut Kreis ebenfalls ein Problem gewesen. &bdquo;Es kam immer wieder zu Druckgeschwüren. Ein Positionswechsel zur Vermeidung wurde nicht durchgeführt." Zudem habe die Ernährung der Bewohner immer wieder Schwierigkeiten verursacht. &bdquo;Mangelernährung wurde nicht erkannt, Maßnahmen nicht eingeleitet. Mehrere Bewohnerinnen und Bewohner haben unbemerkt von der Einrichtung mehrere Kilo an Gewicht verloren." Die Liste an dokumentierten Mängeln ist lang, würde sich noch weiterführen lassen. Muster zeige sich bei Einrichtung immer wieder Obwohl seit September 2018 rund 20 Prüfungen und dutzende Beratungen stattgefunden haben, hat sich an den Mängeln nichts verändert, gibt der Kreis an - &bdquo;trotz umfangreicher Beratungen und mehrerer behördlicher Anordnungen." Bis zur Schließungsverfügung seien sechs ordnungsbehördliche Verfahren und drei Ordnungsverfügungen erlassen worden. So verhängte der Kreis zum Beispiel am 13. Januar 2020 und am 22. Dezember 2021 einen Belegungsstopp. Ein dritter - mit einer erhöhten Personalvorgabe verbundener - erfolgte am 7. November 2022. &bdquo;Die Ordnungsverfügungen aus den Jahren 2020 und 2021 konnten aufgehoben werden, da die Einrichtung die Vorgaben erfüllte beziehungsweise die Mängel abstellte", erklärt die Kreis-Sprecherin. Darüber hinaus habe die Einrichtung durch freiwillige Maßnahmenpläne immer wieder für kurzfristige Besserung gesorgt, weshalb Anordnungen nicht mehr erforderlich gewesen seien. &bdquo;Dieses Muster zeigte sich bei der Einrichtung immer wieder. Bei festgestellten Mängeln und Beschwerden wurde kurzfristig reagiert. Sobald aber die Begleitung durch die Aufsichtsbehörde nachließ, traten die Mängel wieder auf", schildert die Kreisverwaltung. Warum war das so und stimmt es auch Sicht von Medicare überhaupt? Sprecherin Bay betont, dass das Unternehmen allen Hinweisen konsequent nachgegangen sei, um dem eigenen Anspruch an eine hohe Pflegequalität gerecht zu werden. &bdquo;Fakt ist aber auch: Der Pflegesektor ist seit Jahren deutlich unterfinanziert. Die gesamte Branche steht vor riesigen Herausforderungen." Zusätzlich zum Fachkräftemangel, der die Branche stark betreffe, hätten die Pandemie und die darauffolgende Inflation das Dilemma beschleunigt. &bdquo;Deutlich gestiegene Kosten für Energie, Mieten, aber auch Personal machen das Betreiben von Senioreneinrichtungen häufig defizitär. Denn die Pflegesätze steigen nicht im gleichen Maße." Unterlassungsverfügung zum 1. August Trotz der beteuerten Bemühungen des Konzerns haben sich Bewohner, Personal und Angehörige regelmäßig bei der Heimaufsicht des Kreises über die Zustände in der Seniorenresidenz beschwert. Bis zuletzt folgten Kontrollen - etwa eine Anlassprüfung am 24. Februar 2023 aufgrund von &bdquo;Defiziten im Schmerzmanagement und in sämtlichen Bereichen der Behandlungspflege", so Selle. Der Medizinische Dienst habe generelle Mängel in seiner Prüfung rund einen Monat später weitestgehend bestätigt. Aufgrund dieser Entwicklung und da ein nachhaltiger Erfolg nicht erkennbar war, entschied sich die Aufsichtsbehörde schlussendlich für die Unterlassungsverfügung zum 1. August. Laut des Konzerns sei diese aber nicht der eigentliche Grund für die Schließung gewesen. &bdquo;Wir hatten diese bereits ebenfalls aus wirtschaftlichen Gründen erwogen", sagt Bay. Gegen die Anordnung der Heimaufsicht hat das Unternehmen Rechtsmittel erhoben. Vor dem Verwaltungsgericht Minden hatte der Konzern damit keinen Erfolg. Laut Medicare werde die Rechtmäßigkeit aber weiter durch ein Gericht, also wohl das Oberverwaltungsgericht Münster, geprüft. &bdquo;Ein rechtskräftiges Urteil, dass uns zur Schließung verpflichtet, gibt es nicht. Auf dieses kommt es im Zweifel jedoch an", betont die Sprecherin. Schweinefleisch an muslimische Bewohner gefüttert Auf weitere Fragen reagiert sie nicht. So bleibt unklar, warum die Mängel nicht behoben werden konnten. Eine ehemalige Mitarbeiterin lässt das ratlos zurück. Die junge Frau kann sich nicht erklären, wie derartige Lücken in der Versorgung überhaupt entstehen und bestehen bleiben konnten. Sie mutmaßt, dass die ständigen Wechsel der Pflegedienstleitung ursächlich gewesen sein können - &bdquo;auf dem Posten war in den vergangenen Jahren so gut wie keine Stabilität", sagt die Pflegekraft. Das verunsichere die Angestellten, die aufgrund von Personalknappheit ohnehin am Limit gearbeitet hätten. Das hätte manchmal zu Unkonzentriertheiten geführt. Neben Fehlern in der Pflege sei es zu Situationen gekommen, die nicht vertretbar seien. So habe ein muslimischer Bewohner vor einigen Jahren aus Versehen eine Bratwurst aus Schweinefleisch serviert bekommen. &bdquo;Das geht natürlich nicht", so die Frau. Eine ehemalige Bewohnerin bestätigt den Vorfall unabhängig von der früheren Mitarbeiterin. Fehlende Qualifikation hätten beide hingegen nicht beobachten können. Dieser Einschätzung schließt sich die Heimaufsicht an. &bdquo;Das Personal war nicht schlechter ausgebildet oder weniger qualifiziert als in anderen Einrichtungen. Auffällig waren die häufigen Wechsel und Vakanzen auf der Ebene der Einrichtungs- und Pflegedienstleitung", erklärt Dagmar Selle. Im Vergleich zu anderen Einrichtungen seien jedoch vermehrt Mitarbeiter aus Zeitarbeitsfirmen und weniger Stammpersonal angestellt gewesen: &bdquo;Ob dies jedoch ursächlich für die Mängel war, lässt sich nicht feststellen." Vergleichbare Probleme würden sich auch in anderen Einrichtungen feststellen lassen. &bdquo;Der wesentliche Unterschied ist der Umgang mit den festgestellten Mängeln. Üblicherweise gelingt es den Einrichtungen in Absprache mit der WTG-Behörde, oder auch nach entsprechender Anordnung, die Mängel dauerhaft abzustellen." Das sei der Medicare Seniorenresidenz im Grillepark nicht gelungen. &bdquo;Generell haben die Mängel in Pflegeeinrichtungen zugenommen, was sicherlich auch eine Folge des Fachkräftemangels in der Pflege ist." Trotz der Entwicklung gehe die Heimaufsicht aktuell nicht davon aus, weitere Einrichtungen im Kreisgebiet schließen zu müssen.

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