Landratswahl bringt tiefe Konflikte zwischen migrantischen Gruppen ans Licht

Lübbecke/Kreis Minden-Lübbecke. Die Sache beginnt mit einem Auftritt von Ali Dogan im jesidischen Sender &bdquo;Cira TV“. Das Online-Medium sendet per Livestream aus dem Wasserschloss Ulenburg in Löhne und gestaltet ein Programm für die ethnisch-religiöse Gruppe der Jesiden. Die ist beheimatet im Nordirak, in Nordsyrien und der östlichen Türkei und wird für ihren Glauben teilweise verfolgt. Zum Zeitpunkt des Auftritts ist Dogan noch nicht Landrat, sondern Kandidat der SPD. In dem auf Deutsch geführten Beitrag spricht er über seine Herkunft, seine Bewerbung um das Amt und darüber, was die Aufgaben eines Landrats sind. Viele Gesprächsinhalte sind politisch, aber vollends unverfänglich. Allerdings positioniert sich Dogan auch gegen die Staatsführung des türkischen Präsidenten Erdogan, gegen türkischen Ultranationalismus und gegen Antisemitismus. Das haben die Ermittlungen ergeben Nach dem Interview geht eine Anzeige beim polizeilichen Staatsschutz ein. Sie kommt von einem Mann mit türkischem Migrationshintergrund, der gebürtig aus Lübbecke stammt und nun nach eigenen Angaben in Herford lebt. Der Auffassung des Mannes nach hat Dogan in dem Video dazu beigetragen, für die in Deutschland verbotene kurdische Arbeiterpartei PKK zu werben. Erkennbar ist das in dem Auftritt nicht. Im Gespräch mit MT und nw.de beruft sich der Mann allerdings darauf, dass im Vorspann der Sendung Fotos von kurdischen Protesten und Flaggen der PKK und mit dem Gesicht des PKK-Mitgründers Abdullah Öcalan zu sehen seien. Das stimmt, allerdings sind die Fotos nur für ein bis zwei Sekunden eingeblendet und so schwer zu erkennen, dass kaum auszumachen ist, um welche Flaggen in welchem Kontext genau es sich handelt. Beim Staatsschutz geht am 27. Januar jedenfalls eine Anzeige wegen des Vorwurfs ein, Dogan habe in dem Interview "Stellung für die PKK" bezogen, bestätigt Sonja Rehmert, Sprecherin der Bielefelder Polizei. Die Ermittlungen sind inzwischen abgeschlossen und die Polizei betont: "Anhaltspunkte für ein strafrechtlich relevantes Verhalten des damaligen Landratskandidaten, namentlich für eine Unterstützung der PKK, haben sich nicht ergeben." Der gebürtige Lübbecker lässt nicht locker Doch der Mann lässt nicht locker. Er streut anschließend in der Öffentlichkeit einen offenen Brief. Weil Dogan den Mann inzwischen in den sozialen Medien gesperrt hatte, richtet der sein Schreiben an Dogans Ehefrau. Das mag auch daran liegen, dass Dogan seine Gattin im Wahlkampf immer wieder in Videos mit eingebunden hatte. Das Schreiben, das online abrufbar ist und das in der Woche vor der Wahl offenbar mehrere hundert Menschen gelesen haben, ist drei Seiten lang, wortreich und inhaltlich teils schwer zu durchschauen. Unter anderem heißt es: &bdquo;Sehr geehrter Herr Dogan, es steht Ihnen frei, sich in diesem Milieu zu bewegen und mit Sympathisanten dieser Organisation zu diskutieren. Doch stoßen Sie vielen Menschen () vor den Kopf, wenn Sie auf höchst fragliche Weise kollaborieren (). Alles hat seine Grenzen. Dieses 45-minütige Video hat uns maximal irritiert und hohe Wellen in der kurdischen und türkischen Community geschlagen." »... den einen oder anderen wachrütteln« Ob Letzteres stimmt, ist unklar, allerdings verbreitete der Mann auch eine Sprachnachricht in einer von der türkischen Community genutzten WhatsApp-Gruppe. Darin sagt er: "Ich will mir keinen Vorwurf gefallen lassen, nicht jeden Versuch unternommen zu haben. () Ihr wisst, dass Stichwahlen anstehen () und ich denke, dass ich jedem aus der Seele spreche, der türkischer Staatsbürger ist. () Ali Dogan nimmt an Formaten teil, und der Initiator dieses Kanals sympathisiert ganz offenkundig mit der verbotenen Terrororganisation. () Von Ali Dogan wurde ich auf Instagram direkt als Rassist und Faschist beschimpft und blockiert. () Ich kann mich da nur noch einmal an meine islamischen Brüder wenden: Leute, fallt nicht auf diese Falle rein. () Ich hoffe, dass ich an dieser Stelle mal den einen oder anderen wachrütteln konnte." Was sagt Dogan selbst zu den öffentlichkeitswirksamen Aktionen des gebürtigen Lübbeckers? Der Mann, den er nicht kenne, habe ihn nach dem Auftritt in dem jesidischen Sender angeschrieben und &bdquo;rassistisch beleidigt“. Er habe daraufhin gesagt, dass er mit Rassisten und Faschisten nicht spreche und den Mann blockiert. Er empfinde die Angriffe als aggressiv und ordnet den Mann als "Grauen Wolf" ein, also als türkischen Rechtsextremisten. So deute er das &bdquo;ccc“ in seinem Facebook-Profil. Ein kurdischer "Ali" werde von solchen Menschen nicht unterstützt, sondern angefeindet. "Deutschlandweit ist mein Name bei den Ultranationalisten und Erdogan-Anhängern bekannt", betont Dogan. Solche und ähnliche Angriffe erhalte er "wöchentlich". Die Vorwürfe, er sei PKK-Anhänger, seien absurd und an den Haaren herbeigezogen, aber so gingen radikale Gegner aus diesem Spektrum nun einmal vor. Zum Sender "Cira TV" sagt er, dass dieser vollkommen legitim sei. Und natürlich gehe er dort hin, wenn er eingeladen werde. Das steht im Bericht des Verfassungsschutzes In der Tat ist der Sender bisher unbescholten. Jedoch kommt sein Sitz, das Löhner Wasserschloss Ulenburg, im Verfassungsschutzbericht 2021 vor. Der Inlandsgeheimdienst erwähnte allerdings nur einen von mehreren in dem jesidischen Kulturzentrum ansässigen Vereinen. Der "Zentralverband der Ezidischen Vereine" soll eine Nähe zur PKK haben und taucht im Kapitel über "auslandsbezogenen Extremismus" auf. Eigentümer des Areals ist die gemeinnützige "Gesellschaft Kultur und Wissenschaft in der Ulenburg" (Ezdai). Sie vermietet die Räumlichkeiten an jesidische Vereine. Bis auf den einen wird kein anderer Verein und auch nicht der Sender "Cira TV" im Bericht erwähnt. Ezdai-Geschäftsführer Ibrahim Kus zeigte sich gegenüber der Neuen Westfälischen im Sommer 2021 überrascht und enttäuscht von der damaligen Entwicklung: "Wir lassen verfassungswidrige Aktivitäten bei uns nicht zu." Die Ulenburg sei ein Ort der Begegnung von Religion, Kultur und Integration. Das MT hat einem Kenner der türkischen Community die Äußerungen gegen Dogan vorgelegt. Er schätzt den vor der Wahl Dogans warnenden Mann als "islamisch-konservativ und türkisch-nationalistisch", aber eher nicht als "türkisch-rechtsextremistisch" oder als Grauen Wolf ein. Für Letzteres gebe es keine eindeutigen Indizien. Trotzdem: "So jemandem ist ein linker kurdischstämmiger Alevit, der sich kritisch zu türkischem Ultranationalismus äußert, ein Dorn im Auge." Dass der Mann selbst sich darauf berufe, eine kurdische Mutter zu haben, bedeute wenig, denn der extreme Nationalismus gehe in der Türkei durch alle Volksgruppen. Etwa die Hälfte der Kurden sei sogar regierungstreu gegenüber Präsident Erdogan. Die Anzeige des Mannes gegen Dogan und seine Anschuldigen sieht der Experte "noch als harmlos" an. Größte rechtsextreme Organisation in Deutschland Dabei müsse es allerdings nicht bleiben. Denn bei den Grauen Wölfen handelt es sich um die größte rechtsextreme Organisation in Deutschland. Aus dieser Ecke gebe es gegenüber Kritikern auch in Deutschland massive Aggressionen bis hin zu Morddrohungen. Wer sich offensiv gegen türkischen Nationalismus äußere, müsse mit heftigen verbalen oder auch physischen Angriffen rechnen: "Es ist ein Wespennest, in das man dann sticht." Der türkische Extremismus werde in der deutschen Öffentlichkeit bisher unterschätzt. Deutscher Extremismus stehe zurecht im Fokus, türkischer Extremismus dagegen nicht – zu Unrecht. Im Sinne der Demokratie und für ein friedliches Miteinander in der deutschen Gesellschaft müsse dieses Thema öffentlich stärker diskutiert werden, fordert der Szene-Kenner. Das hat Ali Dogan in der Vergangenheit getan. Sieht er darin auch als Landrat eine Aufgabe? Die Antwort fällt eindeutig aus: "Rechtsextremismus, Antisemitismus, Rassismus und Menschenfeindlichkeit an sich möchte ich auch als Landrat unbedingt thematisieren – dazu gehört für mich auch migrantischer Extremismus im Allgemeinen und der türkische Rechtsextremismus im Besonderen." Erkenntnisse über Strukturen im Mühlenkreis Welche Erkenntnisse zu diesen Strukturen in Minden-Lübbecke hat eigentlich der Staatsschutz? "Strukturen der PKK oder der Grauen Wölfe im Kreis Minden-Lübbecke sind dem polizeilichen Staatsschutz nicht bekannt. Feste Mitglieder der PKK sind dort ebenfalls nicht bekannt.“ Auch im Kreis Minden-Lübbecke seien jedoch – wie in allen anderen Kreisen in OWL – Einzelpersonen wohnhaft, die diesen Organisationen nahestehen oder zugeordnet werden könnten. Der Fall zeigt: Die Konflikte zwischen den migrantischen Gruppen gab es schon lange vor einem Landrat mit Migrationshintergrund. Kurden, Aleviten, Muslime, türkische Nationalisten, Jesiden - zwischen diesen Gruppen verlaufen Konfliktlinien, die der oft typisch deutsche Blick auf die nur scheinbar einheitliche Gruppe "der Migranten" überdeckt hat. Ein Landrat mit türkischen Wurzeln wird einiges ans Licht der breiten Öffentlichkeit spülen, das der Wahrnehmung bisher entzogen oder zumindest nicht präsent gewesen ist. Erhöhte Polizeipräsenz am Wahlabend Auswirkungen auf die Polizeipräsenz am Wahlabend im Kreishaus hat die Angelegenheit auf jeden Fall gehabt. Offenbar auch aus Sorge vor Angriffen türkischer Rechtsextremisten war die Polizei am vergangenen Sonntag besonders stark vertreten. Sie selbst bestätigt das nur indirekt. "Im Fall der Landratswahl ist zu erwähnen, dass seitens der Polizei vorbereitend ein lageangepasster Kräfteansatz gewählt wurde, sagt Sprecher Nils Schröder auf nw.de-Anfrage. Details könne er "aus sicherheitsrelevanten Gründen" nicht nennen.

Meistgelesen