Gerichtsprozess zum Fall Philipos: Ein Rache-Reflex ist keine Gerechtigkeit

Psychologen meinen, dem Menschen und anderen Primaten sei ein Gerechtigkeitssinn eigen, den man angeblich beim Nachwuchs ab dem sechsten Lebensjahr nachweisen könne. Und schon Platon lässt Sokrates sagen, &bdquo;die Gerechtigkeit gehöre zu dem Schönsten, nämlich zu dem, was sowohl um seiner selbst willen wie wegen der daraus entspringenden Folgen von jedem geliebt werden muss, der glücklich werden will“. Nun kannte Platon die (a)sozialen Netzwerke noch nicht, in denen Recht und Gerechtigkeit zu emotionalen Affekten degradiert werden, und am Ende fordert irgendwer, der garantiert nichts mit Recht und Gerechtigkeit zu tun hat, drastische Strafen - vor allem für Ausländer. Daraus ließe sich schließen, dass der Gerechtigkeitssinn vielleicht nur ein Rache-Reflex ist. Und der hat es eilig: Lange bevor der oder die mutmaßlichen Täter, der oder die in der Nacht zum 23. Juni den 20-jährigen Philipos Tsanis vor dem Kaiserpalais so brutal zusammengeschlagen haben sollen, dass er zwei Tage später seinen Verletzungen erlag, verhaftet worden waren, tönte es von allen digitalen Plattformen: &bdquo;Abschieben!“ Der Schrei hob an, gellte durch die politische Arena und die ganze Republik, um dann ein jähes Opfer der sehr kurzfristigen Aufmerksamkeitsökonomie zu werden. Am Dienstag beginnt in Bielefeld der Prozess Doch der Reflex ist ein Wiedergänger, nun auferstanden in Erwartung des am Dienstag in Bielefeld beginnenden Prozesses. Im Fokus steht der mutmaßliche Haupttäter, ein offenbar polizeibekannter 18-jähriger Syrer. Zwischenzeitlich hatte man in Bad Oeynhausen eine dem öffentlichen Druck und der ihn begleitenden Aufregung geschuldete Debatte über Sicherheit geführt. Man wollte den Kurpark wieder einzäunen und das immerhin 260.000 Quadratmetern große Areal von Kameras überwachen lassen. Dabei wussten alle, auch und vor allem die Kreispolizeibehörde, dass der Kurpark wahrlich kein Verbrechensschwerpunkt ist. Doch das Sicherheitsgefühl der Kurstädter hatte gelitten, was sie aktuell brav Fernsehteams bestätigen, die sie auf dem Weihnachtsmarkt zwischen Glühwein und Riesencurrywurst danach fragen, ob sie straffällig gewordene Ausländer umgehend abschieben würden. Auch Bürgermeister Lars Bökenkröger will alle abschieben, die ihr Bleiberecht verwirkt und ihre Chance in Deutschland nicht genutzt hätten. Videoüberwachung fordert er allerdings nicht mehr, weil der Datenschutzbeauftragte der Stadt in einem zweiten Aufschlag so freundlich gewesen ist, die für rechtlich bedenklich zu halten. So geht Rechtssicherheit vor Sicherheit und Bökenkröger kann mit Fug und Recht behaupten, er habe die Videoüberwachung selbst bei &bdquo;Lanz“ im ZDF gefordert. Er musste sich dem Recht oder dessen fachmännischer Interpretation geschlagen geben. Lesen Sie auch: Fall Philipos vor Gericht: Drei junge Männer aus Bad Oeynhausen und Staßfurt angeklagt Recht ist schließlich die formelle, durchsetzbare Ordnung einer Gesellschaft, sie strebt Stabilität an. Und die scheint zumindest zwischenzeitlich wieder Einzug gehalten zu haben in Bad Oeynhausen. Anders sieht es mit der Gerechtigkeit aus. Sie ist ein ethisches Ideal, das über das Recht hinausgeht und es hinterfragt. Gerechtigkeit ist kein &bdquo;gesundes Volksempfinden“ Die Gerechtigkeit strebt moralische Richtigkeit an. Von einschlägigen Populisten vornehmlich rechter Prägung wird sie gern mit dem &bdquo;gesunden Volksempfinden“ verwechselt, das reflexhafte Urteile fällt, bevor die Beweisaufnahme begonnen hat. Dann stehen flugs Aktivisten der &bdquo;Jungen Alternative“ vorm Badehaus, halten eine &bdquo;Mahnwache“ ab und fordern massenweise Remigration, bis Ihnen auffällt, dass das Opfer auch eine Migrationsgeschichte hat. Dass auch zwei Deutsche mitangeklagt sind, Philipos getötet zu haben, wird in diesen Kreisen übrigens gern verschwiegen. Die kann man schlecht abschieben. Den mutmaßlichen Haupttäter so schnell übrigens auch nicht. Der nämlich hat in einem Rechtsstaat, in dem (noch) die Unschuldsvermutung gilt, das Recht auf ein faires Verfahren und müsste wohl auch, sollte er verurteilt werden, seine Strafe in der Bundesrepublik antreten, bevor man ihn nach Syrien abschieben könnte. Lesen Sie auch: Fall Philipos T. - aktuelle Nachrichten und Hintergründe Das Recht ist auch deshalb komplex, weil es allgemeine Regeln setzt, die sich in den Verfahren am Einzelfall bewähren müssen. Dieser Komplexität verweigern sich die &bdquo;sozialen Netzwerke“, die die Dosis steigern müssen, um die nach Aufmerksamkeit Süchtigen bei der Stange oder auf der Plattform zu halten. Und nun wird das Thema mit Blick auf den Prozess wieder angefixt und man mag den Urteilenden wünschen, dass sie mit Rücksicht auf das Recht und die Gerechtigkeit in der Lage sind, diesen das Verfahren irritierenden Lärm zu überhören.

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