Mögliche Knackpunkte der ICE-Trasse durch OWL

Bad Oeynhausen. Lothar Ibrügger hat in einem Interview mit der Neuen Westfälischen im Sommer 2019 auf die Pläne der Bahn zum Neubau einer Hochgeschwindigkeitstrasse quer durch OWL aufmerksam gemacht und die wesentlichen Knackpunkte beschrieben, die nun im sogenannten "Planungsdialog" der Deutschen Bahn auf den Tisch kommen. Ibrügger arbeitet als freier Stadt- und Regionalplaner. Für das Gespräch ist der heute 76-jährige SPD-Politiker aus Minden mit zahlreichen Karten und Planskizzen im Rucksack mit dem Fahrrad nach Bad Oeynhausen geradelt. Herr Ibrügger, einer Ihrer Nachfolger, der Bahn-Beauftragte Enak Ferlemann, hat gehörigen Wirbel mit der Ankündigung einer Hochgeschwindigkeits-Neubaustrecke quer durch Ostwestfalen-Lippe verursacht. Was wird da geplant? Lothar Ibrügger: Ich kenne Herrn Ferlemann seit den 1990er Jahren, er ist gut mit der Problematik der Nord- und Südbahn in Bad Oeynhausen vertraut. Momentan wird unter dem Stichwort Deutschland-Takt über die künftigen Schienenwege diskutiert. Werden da erste Pflöcke eingeschlagen? Ibrügger: Nicht mal das. Hier wird eine flächendeckende Verunsicherung der Bevölkerung zwischen Hannover und Bielefeld betrieben. Tausende von Eigentümern könnten von einer Neubautrasse betroffen sein. Das ist eine vermeidbare Irreführung. Ich würde das als Staatssekretär so nicht betreiben, solange das Parlament nicht zustimmt. Der Bundesverkehrswegeplan sieht den viergleisigen Ausbau der bestehenden Strecke vor... Ibrügger: Der verbindliche Planungsauftrag des Deutschen Bundestags lautet: zwischen Haste und Minden Tempo 230 und zwischen Porta Westfalica und Löhne eine Ertüchtigung auf Tempo 180. Im Vergleich zu den Äußerungen von Staatssekretär Ferlemann ist das ein himmelweiter Unterschied. Ibrügger: Das ist ein fundamental anderes Konzept. Zum Zeitpunkt der Beratungen im Parlament war von Hochgeschwindigkeit und Tempo 300 überhaupt nicht die Rede. Die Bundesregierung will aber offensichtlich das Schienennetz von 34.000 Kilometern so optimieren, dass ein flächendeckender Taktverkehr möglich wird. Das ist ein begrüßenswerter Ansatz. "Im Ruhrgebiet sind neue Trassen ausgeschlossen" Und dafür braucht es schnelle Züge, die mit Tempo 300 durch OWL rauschen? Ibrügger: Die Deutschlandtakt-Gutachter schlagen zwischen Berlin und Köln einen Halbstundentakt mit einer Fahrtzeit von vier Stunden vor. Das vorhandene Schienennetz gibt das aber nicht her. Im Ruhrgebiet können sie nicht so schnell fahren. Neue Trassen sind dort ausgeschlossen. Was halten Sie von den Neubau-Plänen? Ibrügger: Die kürzeste Verbindung zwischen zwei Punkten ist die Gerade. Das lässt sich in unserer Region aber nur schwer realisieren. Zwischen Bielefeld und Seelze sind es 77 Kilometer Luftlinie. Wenn ich mit dem Zug schnell fahren will und die Reisenden nicht wie in der Achterbahn in die Ecke geschoben werden sollen, muss ich mit weiten Kurvenradien arbeiten. Das heißt: Die bestehende Strecke scheidet aus? Ibrügger: Ja. Vorsichtig gerechnet brauchen sie mindestens 90 Kilometer Neubaustrecke zwischen dem Viadukt in Bielefeld und Seelze für Tempo 300. Eine zweigleisige Strecke müsste in dieser Landschaft 67,5 Meter breit werden. Allein der Flächenbedarf für zwei Gleise Hochgeschwindigkeitsverkehr beträgt 67.500 Quadratmeter pro laufenden Kilometer. Geht das nicht schlanker? Ibrügger: Sie fahren aber Hochgeschwindigkeit. Die Gleise dürfen nicht zu dicht beieinanderliegen. Zwischen Hannover-Seelze und Bielefeld-Schildesche wären allein sechs Millionen Quadratmeter Fläche erforderlich. Ich habe das mal mit den gängigen Kostenkennwerten und einer Preissteigerung von etwa 2,5 Prozent durchgerechnet. Da komme ich für eine Neubaustrecke mit Tempo 230 schon auf etwa 50 Millionen Euro pro laufenden Kilometer. Das ist nur die reine Trasse. Kommen aber Tunnel dazu, brauchen sie zusätzlich bis zu 50 Millionen Euro pro Kilometer Strecke. Von wie vielen Tunneln gehen Sie denn aus? Ibrügger: Na, ja. Sie müssen durch das Ravensberger Hügelland, Lippe und den Vlothoer Bonneberg. Wenn ich nur freie Strecke zwischen Bielefeld und Seelze hätte, käme ich auf 4,5 Milliarden Euro Gesamtkosten. Bei nur zehn Kilometern Tunnel sind es aber schon 5,1 Milliarden Euro. Es dürften aber eher 30 bis 40 Kilometer Tunnel nötig sein. Und was ist mit Brücken? Ibrügger: Auf der Luftlinie gibt es allein drei Weserquerungen bei Eisbergen und die Werre muss überbrückt werden. Das sind teure Ingenieurbauwerke. Bis zur Ravensberger Mulde geht es nicht ohne Tunnel. Und wenn die Weser nicht dreimal überquert werden soll, müssen andere Radien gefahren werden. Das bedeutet aber, dass im Lippischen Bergland Tunnel gebaut werden müssten. Das ist alles ein bisschen viel ... Ibrügger: Wir reden hier über einen Trassenkorridor, den Herr Ferlemann übrigens bis zum Mittellandkanal ausgedehnt hat. Ein solches Projekt zwischen Köln und Berlin haben wir schon einmal erörtert – damals mit Tempo 400 beim Transrapid. Wir erleben hier ein Wiederaufleben von Hochgeschwindigkeitsfantasien, die in keiner Weise durch den tatsächlichen verkehrspolitischen Bedarf gedeckt sind. Die Bahn braucht mehr Qualität, Pünktlichkeit und Zuverlässigkeit nicht nur für eine schnelle Elite, sondern für alle Bahnkunden – vor allem für die 7,7 Millionen täglichen Bahn-Pendler im Nahverkehr. Eine Schnellfahrtstrecke dieser Größenordnung kostet rasch 4,5 bis sieben Milliarden Euro zum Preisstand im Jahr 2021. Dieses Projekt sprengt sämtliche Kostenrelationen, die in einem Schienenverkehrswegeplan realistisch wären. Außerdem steht es in Konkurrenz zu den vielen anderen Projekten, die jetzt im Rahmen des Deutschland-Takts entdeckt werden. Die Preisfrage ist der Todesstoß? Ibrügger: Nein, aber der Schlüssel zur Verwirklichung. Der Bürger hat ein Recht darauf, dass die Regierung erst ein Preisschild an die Pläne hängt, bevor sie weiterdiskutiert werden. Meiner Meinung nach wäre das Gebot der Stunde aber Ausbau vor Neubau. Wir haben ein historisch gewachsenes Schienenwegenetz, das inmitten der Wirtschaftsregion OWL verläuft. Im Umfeld von 20 Kilometern dieser europäischen Magistrale wird ein Großteil unseres Bruttosozialproduktes erwirtschaftet. Die vorhandenen Schienenwege müssten ertüchtigt werden. "Versuchen Sie mal, am Kölner Hauptbahnhof zu bauen" Da bleiben aber zahlreiche Kurven, die eine höhere Geschwindigkeit verhindern. Wäre es nicht einfacher, wenigstens den Schlenker bei Minden durch den Jakobsberg abzukürzen? Ibrügger: Nein, was sagen Sie denn dem staunenden Bürger und Steuerzahler, ob diese Minute Fahrzeitverkürzung überhaupt gerechtfertigt ist? Das ist doch volkswirtschaftlicher Unfug! Außerdem würde der gesamte Fahrzeitgewinn womöglich in den völlig überlasteten Zufahrten zu den Knoten Köln, Hamm, Hannover oder Berlin verbummelt. Diese Knoten sind unzureichend leistungsfähig. Was spricht dagegen, diese Knotenpunkte ebenfalls auszubauen? Ibrügger: Nichts. Aber das bedeutet in Hannover eine Milliarde Euro und in Köln weitere Milliarden Euro. Versuchen Sie mal am Kölner Hauptbahnhof ein Bauvorhaben durchzusetzen! Wir haben zur Zeit allein durch den laufenden und geplanten Ausbau einen Bedarf von etwa 50 Milliarden Euro, die nur mit 1,6 Milliarden Euro Ausgaben pro Jahr abgearbeitet werden. Die Ausgaben sind von Finanzminister Olaf Scholz gedeckelt. Da brauchen Sie 30 Jahre, bis sie den Investitionsstau auflösen! Und wir haben zur Zeit Preissteigerungen von sieben Prozent. Sie bauen also für das gleiche Geld nicht mehr 100 Kilometer Strecke, sondern nur noch 75 oder 60 Kilometer Strecke. Und da fragen Sie mich, ob nicht durch eine Kurvenbegradigung eine höhere Beschleunigung erreicht werden kann? Die verpufft in nicht leistungsfähigen Knoten, weil man sträflich unterlassen haben, zunächst die Leistungsfähigkeit der Knoten anzuheben! Die Fahrtzeitverkürzung durch den Tunnel unterm Jakobsberg soll acht Minuten betragen. Ibrügger: Ja und zwischen Bielefeld und Dortmund kann man neun Minuten Fahrzeitverkürzung herausholen bei Tempo 280. Und zwar im vorhandenen Schienennetz. Wie soll das denn gehen, wenn man die Strecke nicht begradigt? Ibrügger: Durch Neigetechnik. Die Versuche der deutschen Industrie sind alle missglückt. In Spanien dagegen funktioniert das. Dort können engere Radien gefahren werden. Die Deutschen wollten das elektronisch regeln, die Spanier haben sich auf die Naturgesetze verlassen. Seitdem funktioniert es! Es bleibt aber ein faszinierender Gedanke: Von Bielefeld direkt nach Berlin oder Köln? Wer will schon nach Niedersachsen oder ins Ruhrgebiet? Ibrügger: Der Fernverkehrsreisende setzt dabei voraus, dass auch Bürger aus Bad Oeynhausen, Bückeburg oder Bochum die Hochgeschwindigkeitsstrecke mit seinen Steuern bezahlen. Die fragen aber völlig zurecht: Wir Steuerzahler finanzieren den Schienenweg und schauen nur dem Zug hinterher? Wir wollen auch einen Halt! Bei Fernreisen müssen sie in einer dicht besiedelten Republik auch mal anhalten. Zwei Drittel der Bahnkunden reisen nicht weiter als 200 Kilometer. Die Grundsatzfrage bleibt: Was ist der Steuerzahler bereit, für ein funktionierendes Schienennetz zu bezahlen? Meine Antwort ist die Flächenbahn für alle in Stadt und Land. Glauben Sie nicht, dass eine Schnellfahrt-Strecke die Nachfrage nach klimafreundlichen Reisen steigern könnte? Ibrügger: Es geht aber finanziell nicht auf, dass wir die Fernverkehrsbedürfnisse der Kölner nach Berlin befriedigen. Wenn der Deutschland-Takt kommt, würden nach Fahrplan jeden Tag 23.400 Sitzplätze von Köln nach Berlin angeboten. Dem stehen derzeit 4.000 Flugreisende gegenüber. Deren Umstieg auf die Bahn, würde den Aufwand nicht rechtfertigen. Jeder Euro, den ich dafür ausgebe, fehlt mir für die Sanierung der maroden Brücken, die Einrichtung eines elektronischen Zugsicherungssystems, dem Bau von Ausweichstrecken bei Störungen, Überholgleisen und vieles mehr. "Nehmt die Schweiz als Vorbild! Die kommt mit 200 aus" Geschwindigkeit ist keine Lösung? Ibrügger: Meine Forderung ist: Nehmt Abschied von überspannten Hochgeschwindigkeitsfantasien, die stehen in keinem Verhältnis zu den Milliardenkosten. Nutzen hätten nur wenige Großstädte. Ich sage: Nehmt die Schweiz als Vorbild! Die kommen mit Tempo 200 aus. Die Schweiz ist ein kleines Land, da kommt man schnell von A nach B. Ibrügger: Gut, aber der mir gut vertraute, ehemalige Schweizer Verkehrsminister und Bundespräsident Moritz Leuenberger hatte den richtigen Ansatz: Das Schienennetz ist Daseinsvorsorge für alle Bürger. Deshalb muss der Staat auch Schienenverkehrsleistungen für möglichst viele Bürger in Stadt und Land gewährleisten. Das Interview hat Ulf Hanke zusammengefasst.

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