145 Wittekindshof-Mitarbeiter wegen Freiheitsberaubung beschuldigt

Bad Oeynhausen. Der Wittekindshof ist zur Chefsache in Düsseldorf geworden. "Das Ministerium für Arbeit und Gesundheit, Gesundheit und Soziales wird die Geschehnisse lückenlos aufklären und die erforderlichen Veränderungen veranlassen, um solche Geschehnisse zukünftig und landesweit auszuschließen", teilt Pascal Wirth aus der Pressestelle von Minister Karl-Josef Laumann auf Anfrage der nw.de am Montag mit. "Solche Geschehnisse"- die werden am gleichen Tag von Staatsanwaltschaft und Polizei konkretisiert: Es laufen derzeit Ermittlungsverfahren gegen 145 Wittekindshof-Mitarbeiter. Sie werden der Freiheitsberaubung und der gefährlichen Körperverletzung beschuldigt. Die Betreuerin eines ehemaligen Wittekindshof-Bewohners hatte im Mai 2019 Strafanzeige gestellt, weil ihr Bruder elf Monate lang in einem neun Quadratmeter großen Zimmer ohne Freigang und vollgepumpt mit Medikamenten eingesperrt worden sei (die NW berichtete). Weil es Hinweise auf ähnliche Zwangsmaßnahmen gegeben hatte, ließ Staatsanwalt Christopher York am 1. Oktober 2019 durch 70 Polizeikräfte eine groß angelegte Durchsuchungsaktion auf dem Stiftungsgelände durchführen. Dabei wurden mehr als 30 Aktenordner sowie umfangreiches elektronisches Datenmaterial sichergestellt. Außerdem wurden 135 Bewohnerzimmer kontrolliert. Später ließ die Staatsanwaltschaft durch die polizeiliche Ermittlungskommission "Herbst" weitere 26 Objekte durchsuchen. Der Schwerpunkt lag dabei in Ostwestfalen-Lippe. Sieben der 26 Durchsuchungen wurden in Bundesländern außerhalb von NRW vorgenommen. 21 Fälle von Reizgas-Einsatz Mittlerweile wird nicht nur gegen den ehemaligen Leiter des Geschäftsbereichs "Heilpädagogische Intensivbetreuung", sondern gegen weitere 145 Beschuldigte, darunter Ärzte und verantwortliche Betreuer sowie Angehörige des Pflegepersonals ermittelt. Und zwar wegen Freiheitsberaubung und gefährlicher Körperverletzung. Die Beschuldigung einer großen Anzahl von Personen resultiere daraus, so der zuständige Staatsanwalt Christopher York, dass die Ermittlungen Anhaltspunkte dafür ergeben hätten, dass sie als Pflegepersonal an der Umsetzung von einzelnen freiheitsentziehenden Maßnahmen beteiligt gewesen seien, ohne diese jedoch angeordnet zu haben. Aktuell haben die Ermittler 32 mutmaßlich Geschädigte identifiziert. Bei den freiheitsentziehenden Zwangsmaßnahmen handele es sich unter anderem um Gruppen- oder Zimmerverschluss sowie die Unterbringung in einem sogenannten "Time-Out-Raum", ohne dass ein richterlicher Beschluss hierfür vorgelegen habe beziehungsweise zur Weiterführung der Maßnahme eingeholt worden wäre. Gleiches gelte für Fixierungen auf einem Stuhl oder einer Matte. Ende der Ermittlungen nicht absehbar Nach den bisherigen Ermittlungen soll es zudem in rund 21 Fällen zu dem Einsatz von CS-Gas gegen Bewohner des Geschäftsbereichs 4 gekommen sein. "Es steht noch eine Einzelfallprüfung aus, die Klarheit darüber bringen soll, ob der Einsatz von Reizgas gegebenenfalls durch Notwehr gerechtfertigt war", kündigt Staatsanwalt York an. Wann die komplexen Ermittlungen abgeschlossen sein werden, sei derzeit noch nicht absehbar. Mit Verweis auf die laufenden Ermittlungen verweigert das Ministerium die Erläuterung von Einzelheiten. Der Pressesprecher weist aber darauf hin, dass das Ministerium bereits eingegriffen habe. Unter anderem gegenüber dem Kreis Minden-Lübbecke als Heimaufsicht. Wirth: "Der Kreis wurde unter anderem angewiesen, die Personalausstattung in dem betroffenen Bereich der Einrichtung zur Sicherstellung einer angemessenen Versorgung zu verbessern, die richterliche Beschlusslage in Bezug auf die konkrete Umsetzung und Anwendung von freiheitsentziehenden Maßnahmen und anderen Gewaltmaßnahmen zu klären und falls erforderlich sofort anzupassen und ebenso deren Dokumentation zu verbessern". Die Anordnungen wurden vom Kreis mittlerweile umgesetzt. Die Personalausstattung der Heimaufsicht wurde verbessert, außerdem gibt es einen Krisenstab, der sich mit dem Wittekindshof befasst. Der Kreis hat nicht nur die Heimaufsicht über den Wittekindshof, sondern für alle rund 170 Pflege-, Alten- und Behinderteneinrichtungen in Minden-Lübbecke. Auch im Wittekindshof wurden bereits Konsequenzen gezogen. Unmittelbar nach Bekanntwerden der ersten Vorwürfe wurde der Geschäftsbereichsleiter von seiner Arbeit freigestellt, der gesamte Geschäftsbereich zur Intensivbetreuung wurde mittlerweile neu strukturiert. Der zuständige Bereich wurde personell so aufgestockt, dass nach dem &bdquo;Mehraugenprinzip" nun ein Team aus vier Personen zuständig ist. Dierk Starnitzke, Vorstandsvorsitzender der Stiftung Wittekindshof, sichert Staatsanwaltschaft und Polizei umfassende Unterstützung bei den weiteren Ermittlungen zu. "Weitere öffentliche Stellungnahmen und Informationen wird es während des laufenden Ermittlungsverfahrens aber nicht geben", stellt Pressesprecherin Jaqueline Patzer gegenüber der NW fest. Auch Pascal Wirth hält sich mit weiteren Auskünften zurück, verspricht aber: "Die dem zuständigen Abteilungsleiter unmittelbar zugeordnete Projektgruppe wird den Vorwürfen nachgehen und eine fachliche Aufarbeitung der Geschehnisse vornehmen".

Meistgelesen