Wittekindshof-Vorwürfe: Was bei freiheitsentziehenden Maßnahmen passiert

Bad Oeynhausen. Sich schlagen, kratzen, beißen, verstümmeln, gepaart mit enormer Zerstörungswut, Pyromanie, das Schmieren mit Kot oder auch der Angriff auf die Pflegekraft und deren Würgen bis zur Atemnot - all das ist häufig Alltag in Einrichtungen, in denen außergewöhnlich hilfebedürftige Menschen leben. Deshalb sei es, so sagte Superintendent Andreas Huneke in seiner Rede anlässlich des Aschermittwochsempfanges der Diakonischen Stiftung Wittekindshofes, leider auch regelmäßig notwendig, Bewohner vor sich selbst und andere vor den Bewohnern zu schützen, indem sie weggeschlossen oder mit Gurten fixiert werden. "Der Wittekindshof betreut mehr als 300 Menschen, bei denen freiheitsbeschränkende Maßnahmen angewendet werden müssen." Doch wer entscheidet eigentlich über eine solche Maßnahme? Und wie schnell geht das? Der Sprecher des zuständigen Landgerichtsbezirks Bielefeld, Guiskard Eisenberg, erklärt, warum es trotz fehlender Genehmigung manchmal zulässig ist, die Freiheit von Patienten kurzzeitig einzuschränken. Im Mai vergangenen Jahres hatte die Schwester eines heute 28-Jährigen juristische Schritte gegen den Wittekindshof eingeleitet, weil ihr Bruder elf Monate lang in einem neun Quadratmeter großen Zimmer ohne Freigang und Fernseher, vollgepumpt mit Medikamenten, eingesperrt worden sein soll. In einer mehrstündigen Aktion hatte Anfang Oktober die Polizei mit 70 Beamten der Kreispolizeibehörde Minden-Lübbecke und aus anderen ostwestfälisch-lippischen Polizeibehörden die Räumlichkeiten des Geschäftsbereichs 4 auf dem weitläufigen Gelände in Volmerdingsen durchsucht. Dabei stellten die Ermittler umfangreiches Beweismaterial sicher, darunter Aktenordner und andere Daten. In dem betroffenen Geschäftsbereich leben, so Andreas Huneke, rund 120 Menschen mit einem sehr hohen bis extremen Unterstützungsbedarf. Selbst- und Fremdgefährdungen seien dort an der Tagesordnung. Der Betreuer muss entscheiden Kurzzeitig die Freiheit entziehen, das geht. Fixierungen, die allerdings über 30 Minuten hinausgehen, bedürfen einer richterlichen Genehmigung. Einen Antrag auf eine solche Genehmigung kann allerdings nicht die Einrichtung selbst stellen: "Der erste Ansprechpartner für Mitarbeiter in Einrichtungen ist immer der Betreuer des Bewohners, der letztlich entscheiden muss, ob die Maßnahme notwendig ist und diese dann auch beantragen muss", erklärt Guiskard Eisenberg, Sprecher des Landgerichtes Bielefeld. Das ist übergeordnet für die drei im Landgerichtsbezirk Bielefeld eingerichteten Bereich Nord (Bad Oeynhausen, Bünde, Herford, Lübbecke, Minden und Rahden), Mitte (Bielefeld) und Süd (Gütersloh, Halle und Rheda-Wiedenbrück) zuständig. In dem Bereich ist sichergestellt, dass in der Zeit zwischen 6 und 21 Uhr ein sogenannter Bereitschaftsdienstrichter für Eilmaßnahmen erreichbar ist. "Alles, was bis 21 Uhr eingeht, muss noch bearbeitet werden - das kann durchaus die halbe Nacht dauern." Per Fax geht der Antrag an eine zentrale Nummer in Düsseldorf, wird dort mit Eintreffen unmittelbar digitalisiert und an die zuständige Geschäftsstelle in Bielefeld weitergeleitet, die per Handy alarmiert wird. Nachts passiert nichts In seiner Ansprache zum Aschermittwochsempfang bemängelt Andreas Huneke, der gleichzeitig Vorsitzender des Stiftungsrates der Diakonischen Stiftung ist, dass es in den Nachtstunden keine Bereitschaft gebe und somit eingehende Anträge nicht sofort bearbeitet werden. "Ja, es stimmt, dass nachts - zwischen 21 und 6 Uhr - die diensthabenden Richter nicht erreichbar sind", bestätigte Eisenberg. "Der Antrag geht trotzdem bei uns ein und wird am nächsten Morgen bearbeitet." Trotzdem dürfe die Einrichtung bereits in der Nacht tätig werden. "Wenn die Entscheidung zurecht gefallen ist, dann ist sie auch genehmigungsfähig", erklärt der Sprecher. Dann müsse mit Maßnahmen nicht gewartet werden. "Auch zu den Dienstzeiten gibt es ja nicht innerhalb von zwei Minuten einen richterlichen Entscheid." Trifft der Antrag ein, greift der diensthabende Richter in der Regel zum Telefon und lässt sich von der Einrichtung am Telefon den Vorfall schildern. "Erst dann fährt er raus und hört den Betroffenen persönlich an." Fälle, bei denen sich Fixierungen noch in der Nacht wieder erledigen, werden morgens vom Richter nicht weiterverfolgt: "Dann gibt es keine nachträgliche Genehmigung", bestätigt Guiskard Eisenberg. Die Einrichtung hat somit für die freiheitsentziehenden Maßnahmen keine richterliche Genehmigung. Ein Problem? "Nein", sagt Eisenberg. Das könne niemandem auf die Füße fallen. "Sobald der Betreuer die Maßnahmen absegnet und den Antrag losschickt, haben Einrichtung und Betreuer alles Erforderliche getan." Strafbar könnten Fixierungen oder Einschließungen erst dann werden, wenn sie ohne das Bemühen um eine richterliche Genehmigung stattfinden würden. Oder anlasslos oder unverhältnismäßig seien. Harte Arbeitsbedingungen Manchmal innerhalb von Minuten müssen Mitarbeiter betroffener Einrichtungen entscheiden, welches der passende Umgang mit ausrastenden Bewohnern ist. &bdquo;Das sind extrem harte Arbeitsbedingungen", stellte Superintendent Huneke klar. &bdquo;Niemand entkommt in solchen extremen Handlungsbereichen Widersprüchlichkeiten zwischen Werten wie Selbst- und Fremdbestimmung, Bewegungsfreiheit oder Einschränkungen zum eigenen Schutz oder dem Schutz anderer." Und auch Guiskard Eisenberg macht deutlich, dass die praktische Handhabung des Betreuungsgesetzes oftmals im Alltag nicht einfach sei. "Die Gesellschaft kann nur dankbar sein für die Menschen, die diesen Job machen."

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