Wittekindshof stellt sich den schweren Vorwürfen

Bad Oeynhausen. "Wir müssen den Ermittlungen entnehmen, dass es sich wahrscheinlich nicht um einen Einzelfall handelt." Mit diesen deutlichen Worten nahm Superintendent und Vorsitzender des Stiftungsrates der Diakonischen Stiftung Wittekindshof, Andreas Huneke, beim Aschermittwochsempfang erstmals öffentlich Stellung zu den Vorwürfen der Freiheitsberaubung und Körperverletzung eines ehemaligen Bewohners durch einen Mitarbeiter (die NW berichtete). Zugleich zeichnete er ein Bild der überaus komplexen Aufgaben im betroffenen Arbeitsbereich und mahnte eine richterliche Erreichbarkeit rund um die Uhr für Eildienste an. "In den Abend- und Nachtstunden gibt es in Bad Oeynhausen bisher keinen Amtsrichter, der über freiheitsentziehende Maßnahmen entscheiden könne. Dabei sei durchaus manchmal Eile geboten." Razzia Anfang Oktober Im Mai vergangenen Jahres hatte die Schwester eines heute 28-Jährigen juristische Schritte gegen den Wittekindshof eingeleitet, weil ihr Bruder elf Monate lang in einem neun Quadratmeter großen Zimmer ohne Freigang und Fernseher, vollgepumpt mit Medikamenten, eingesperrt worden sein soll. In einer mehrstündigen Aktion hatte Anfang Oktober die Polizei mit 70 Beamten der Kreispolizeibehörde Minden-Lübbecke und aus anderen ostwestfälisch-lippischen Polizeibehörden die Räumlichkeiten des Geschäftsbereichs 4 auf dem weitläufigen Gelände in Volmerdingsen durchsucht. Dabei stellten die Ermittler umfangreiches Beweismaterial sicher, darunter Aktenordner und andere Daten. "Derzeit werden die Daten ausgewertet und Zeugen befragt", erklärte Huneke den 280 Gästen in der Sporthalle der Einrichtung. "Unsere Sorge ist, dass es hier zu Versäumnissen und systemischen Fehlern in diesem Geschäftsbereich gekommen sein könnte." Deshalb nähmen sie die Ermittlungen sehr ernst. "Wir möchten den Empfang zum Anlass nehmen, uns in der Öffentlichkeit offen und transparent mit den Vorwürfen auseinander zu setzen." In einem ersten Schritt wurde noch in 2019 der zuständige Leiter des Geschäftsbereiches von seinen Aufgaben entbunden. Zudem wurde eine Kommission eingesetzt, die die Prozesse und Standards der Gewaltprävention sowie das vorhandene Regelwerk, nach dem Mitarbeiter jährlich geschult werden, überprüft. Parallel dazu wurde damit auch ein externer Experte, ein Fachanwalt für Medizinrecht aus Berlin, beauftragt. Auch wurden alle aktuellen freiheitsentziehenden Maßnahmen auf ihre Rechtmäßigkeit unter die Lupe genommen und zusätzlich zum bestehenden Beschwerdesystem ein Ombudssystem eingerichtet. In dem betroffenen Geschäftsbereich leben, so Andreas Huneke, rund 120 Menschen mit einem sehr hohen bis extremen Unterstützungsbedarf. Selbst- und Fremdgefährdungen seien dort an der Tagesordnung. "Bezugspersonen werden dabei leider auch verbal und körperlich angegriffen, werden teilweise auch schwer verletzt oder lebensbedrohlich gewürgt." Die Mitarbeiter müssten in solchen Situationen aber trotzdem entscheiden, welches die passende Maßnahme sei und das mit den rechtlichen Betreuern absprechen. Freiheitsbeschränkende Maßnahmen im Einklang mit Betreuer und Richter "Das sind extrem harte Arbeitsbedingungen", stellte der Superintendent klar. "Niemand entkommt in solchen extremen Handlungsbereichen Widersprüchlichkeiten zwischen Werten wie Selbst- und Fremdbestimmung, Bewegungsfreiheit oder Einschränkungen zum eigenen Schutz oder dem Schutz anderer." Der Wittekindshof betreue rund 300 Menschen, bei denen freiheitsbeschränkende Maßnahmen, die mehr als 30 Minuten überstiegen, im Einklang mit dem Betreuer und dem Richter angewendet werden würden. Die geschlossene Unterbringung in einer Wohngruppe, der Zimmerverschluss oder die 4-, 5- oder 7-Punkt-Fixierung, aber auch das Hochklappen eines Bettgitters seien ein solcher Freiheitsentzug, der eine richterliche Genehmigung brauche. "Leider gibt es bei uns in der Region keinen richterlichen Eildienst, der auch abends und nachts erreichbar ist", bemängelte der Stiftungsratsvorsitzende. Erst seit dem 1. Januar werde versucht, eine solche organisatorische Regelung einzurichten. Das allerdings derzeit zentral in Düsseldorf. "Einrichtungen wie der Wittekindshof kommen bei dem herausfordernden Verhalten dieser Personengruppe und den derzeitigen rechtlichen und gesetzlichen Bedingungen an ihre Grenzen." Weshalb es einen neuen Bereich zwischen Behindertenhilfe, Psychiatrie und Forensik für diese Menschen zum Leben brauche. "Die Schwere und Problematik dieses Arbeitsbereiches kann und soll in keiner Weise eine Rechtfertigung für möglicherweise problematische Verhaltensweisen in dem betroffenen Bereich sein", betonte Andreas Huneke. Alles müsse schonungslos aufgeklärt werden. Niemand solle durch die Arbeit des Wittekindshofes Leid erfahren. Sollten sich die Vorwürfe bestätigen, bedauere das die Einrichtung schon jetzt zutiefst. Andreas Huneke versprach: "Wenn sich die Vorwürfe ganz oder in Teilen bestätigen, werden wir uns dem vorbehaltlos stellen und die nötigen Konsequenzen ziehen."

Meistgelesen