Jugendamt Lage reißt Familie auseinander: Wie das Gericht entscheidet

Oerlinghausen / Lage / Barntrup. Ferien sind dazu da, damit die Kinder sich erholen. Doch für drei Kinder aus Lage endeten die Sommerferien mit einem traumatischen Erlebnis. Zwei Wochen vor Schulbeginn wurden das 9 Jahre alte Mädchen und ihre 12 und 14 Jahre alten Brüder von Mitarbeitern des Jugendamtes Lage &bdquo;in Obhut genommen“, so der bürokratische Ausdruck. Das heißt nichts anderes, als dass sie aus der elterlichen Wohnung herausgerissen und von ihren Eltern getrennt wurden. Und das Ganze mit Unterstützung von mehreren Polizisten in zwei Einsatzfahrzeugen. Das Familiengericht hatte ohne eine Verhandlung eine Ergänzungspflegerin eingesetzt. Einen Tag vor der Herausnahme waren die Eltern in zwei Briefen informiert worden: Einer kam vom Gericht. Darin wurde der Verlust eines Teils des Sorgerechts und der Einsatz einer Ergänzungspflegerin mitgeteilt, der andere kam vom Jugendamt. Darin wurde eine SMS vom Vortag wiederholt: Die Eltern sollten ursprünglich am Tag der Herausnahme um 9 Uhr zu einem Gespräch im Jugendamt erscheinen. &bdquo;Die Briefe haben wir erst abends aus dem Briefkasten geholt, weil wir mit den Kindern den ganzen Tag über unterwegs gewesen sind. Geöffnet habe ich den Brief erst am nächsten Morgen, weil ich mir den schönen Tag nicht versauen wollte“, sagt die Mutter. &bdquo;Aber da standen dann ja schon die Mitarbeiterin des Jugendamtes mit der Ergänzungspflegerin und der Polizei vor der Tür.“ Aus Gesprächseinladung wird Polizeieinsatz &bdquo;Unfassbar“, sagt Familienrechtlerin Phyllis Kauke. &bdquo;Die Ergänzungspflegerin hat mit Hilfe des Jugendamtes völlig überreagiert. Eine solche Aktion ist nur dann angemessen und rechtlich in Ordnung, wenn eine akute Kindeswohlgefährdung besteht, also wenn Mitarbeiter des Jugendamtes begründet annehmen können, dass eine grobe Vernachlässigung oder Misshandlung im Haushalt der Eltern besteht. Das aber war nicht der Fall.“ Lesen Sie auch: Der Fall &bdquo;Elke D. - Kampf gegen das Jugendamt des Kreises Lippe Anfang September gab es dazu im Familiengericht Detmold eine Verhandlung. Richterin Holstein überträgt in der nachgeholten Verhandlung das komplette Sorgerecht wieder auf die Eltern und verfügt, dass die Kinder wieder bei ihren Eltern leben dürfen. Sie wäre auch damit einverstanden gewesen, dass die Kinder am gleichen Tag nach Hause dürfen. Damit waren die Vertreter des Jugendamtes zunächst nicht einverstanden. Familienrechtlerin spricht von Machtspielchen Letztlich durften die Kinder die ungeliebte Unterkunft doch abends verlassen. &bdquo;Machtspielchen“, sagt Kauke. Ende gut, alles gut? Nicht für die Eltern, die ihre Kinder drei Wochen täglich haben leiden gesehen. Sie haben viel mit den Kindern am Telefon geweint; sogar das Essen haben die Geschwister im Heim verweigert und wurden dort getrennt. Nur einmal pro Woche durften sie die Kinder für zwei Stunden besuchen. Für die Mitarbeiter des Jugendamtes soll das Kindeswohl an erster Stelle stehen. Bei der Inobhutnahme, oder, wie es Mitarbeiter des Jugendamtes Lage gegenüber der Rechtsanwältin Phyllis Kauke äußerten, der Herausnahme, haben die drei Kinder geweint und sind letztlich nur mitgegangen, weil der Vater ihnen zugeredet hat. Fragen, die die NW dem Jugendamt Lage zu diesem Thema zugesandt hat, wurden nicht beantwortet. Der Vater der Kinder fühlt sich machtlos Eine Eingewöhnung in die neue Unterkunft, eine Zweigstelle des Vereins Westfälisches Kinderdorf, fand nach Aussage der Eltern nicht statt. In den täglichen Telefonaten haben &bdquo;alle drei Kinder bitterlich geweint“, berichten die Eltern. Der Vater ist vollkommen fertig, macht sich selbst Vorwürfe und fühlt sich machtlos, weil er seine Kinder nicht schützen kann. &bdquo;Von den Mitarbeiterinnen des Jugendamtes wurden wir behandelt wie Kriminelle.“ Der Verein Westfälisches Kinderdorf ließ der NW durch einen Anwalt mitteilen, dass er für eine Korrespondenz nicht zur Verfügung stehe. Als die Schule beginnt, eskaliert die Situation beinahe. Die Einrichtung, in der die Kinder untergebracht sind, wollen die drei an Schulen in der Nähe anmelden. Dagegen wehren sich die Eltern. Die Kinder sollen in ihre bisherigen Schulen gehen können. Im Vorfeld hatten alle drei Kinder gravierende Fehlzeiten. Die Leiterin der Grundschule, die die Neunjährige bis zum Herbst besuchte, schrieb aufgrund der Fehlzeiten eine Kindeswohlgefährdungsmeldung an das Jugendamt Lage. Die Gründe für die Fehlzeiten wurden laut Angabe der Eltern nicht mit ihnen erörtert. Gegenüber der Neuen Westfälischen sagten die Eltern, dass das Mädchen die Schule verweigert habe, weil es gemobbt wurde – von Mitschülern und von Lehrern. Die Familie will Hilfe annehmen Der Mutter gelang es schließlich, das Mädchen mitten im Schuljahr an einer anderen Grundschule unterzubringen. Diese Schule besucht das Mädchen gern und regelmäßig. Die Schulleiterin bestätigt: &bdquo;Sie hat sich gut in die Klassengemeinschaft eingefügt. Die Eltern sind Gesprächseinladungen unaufgefordert nachgekommen.“ Das beschreibt die Situation von Anfang Dezember 2024 bis zum Ende des Schuljahres. Zudem haben wechselseitig zwei Familienhelfer die Familie sechs Wochen lang mehrmals in der Woche betreut. Auch interessant: &bdquo;Ich bin stolz auf meinen Jungen“: Eine lippische Pflegemutter berichtet Die beiden Jungs besuchen die Heinz-Sielmann-Schule. Auch sie besuchten die Schule nicht regelmäßig, sondern fehlten auffallend oft. Ende des vergangenen Jahres wurde Heinz Bröcker um Hilfe gebeten. Der mittlerweile in Pension gegangene Pädagoge war damals Didaktischer Leiter der HSS. Im Gespräch mit der Neuen Westfälischen berichtete er von mehreren Telefonaten, die er mit einer Mitarbeiterin des Jugendamtes Lage geführt hat. In diesen Gesprächen informierte er die Mitarbeiterin, dass die beiden Jungs auf einem &bdquo;sehr guten Weg“ seien, die schulischen Probleme zu bewältigen. Lehrerin meldet schweren Verdacht ans Jugendamt Dann bekommt er mit, dass seine positiven Eindrücke von der Mitarbeiterin des Jugendamtes &bdquo;immer und auch verschriftlicht zuungunsten der Familie (. . .) interpretiert wurden“, wie er es schriftlich dem Jugendamt mitteilt. In dem Brief geht er auch auf die Herausnahme ein. Diese, aus Sicht der Schule, &bdquo;nicht zu rechtfertigende und im Rahmen der positiven Entwicklung der beiden Jungen (. . .) keineswegs notwendige Maßnahme hat uns entsetzt“. Bevor Heinz Bröcker in den Fall involviert wurde, schrieb eine Lehrerin der Heinz-Sielmann-Schule eine E-Mail an das Jugendamt Lage, in der sie den Verdacht äußert, dass es sich bei den Jungs, weil beide nicht am Schwimmunterricht teilnehmen sollten, um das Verstecken von blauen Flecken am Körper und um das Münchhausen-by-proxy-Syndrom handeln könne. Auch wenn es sich nur um eine Verdachtsäußerung handelt, stehen beide Sachen in der Akte der Familie. Eine Rücknahme des Verdachts auf blaue Flecken, nachdem sich der Verdacht als falsch herausgestellt hat, wurde nicht ans Jugendamt gesendet. Lesen Sie auch: Unnötige OPs: Dachte sich eine Mutter aus Büren die Erkrankungen ihrer Töchter nur aus? &bdquo;Wortwahl beim Schreiben ans Jugendamt nicht glücklich“ Christian Landerbarthold, Schulleiter der Heinz-Sielmann-Schule, sagte im Gespräch mit der NW: &bdquo;Es gab bei den Lehrkräften mehrere Anhaltspunkte, die ein schlechtes Bauchgefühl verursachten. Und wir als Schule melden Vorkommnisse lieber einmal zu viel, als dass uns, wenn etwas passiert, vorgeworfen wird, wir hätten nicht hingeschaut und die Warnzeichen übersehen. Die Wortwahl im Schreiben ans Jugendamt war sicher nicht glücklich und wir werden in ähnlichen Fällen anders formulieren. Es ist aber Aufgabe des Jugendamtes, solche Verdachtsäußerungen aus der Akte zu entfernen, wenn sie nach einer Diagnostik nicht vorliegen.“ Über die Verdachtsäußerung des Münchhausen-by-proxy-Syndroms sagte Professor Uwe Tewes, weithin anerkannter Gutachter für familienpsychologische Fragen und jemand, der sich intensiv mit diesem Syndrom befasst hat, dass einer Lehrerin die Kompetenz fehle, solch einen Verdacht zu äußern. Das Syndrom trete extrem selten auf. Er nannte die Häufigkeit von ein bis zwei Fällen in einer Region mit einer Million Einwohner. Zudem könne nicht das Kind an dem Syndrom leiden, sondern nur ein Elternteil. Die Diagnose könne nur ein Arzt stellen. Aber es steht nun in der Akte und wurde von einer Mitarbeiterin des Jugendamtes Lage auch während einer Gerichtsverhandlung angesprochen. In der Familiengerichtsverhandlung am 2. September entschied die Richterin Holstein, den Eltern das volle Sorgerecht zurückzugeben. Allerdings machte das Gericht, wie schon in zwei Verhandlungen vorher zur Auflage, dass die Kinder familienpsychologisch begutachtet werden, dass sie zu einer Diagnostik im Medizinischen Versorgungszentrum vorgestellt werden und dass eine Sozialpädagogische Familienhilfe (SPFH) installiert wird. Mit diesen Auflagen erklärten sich die Eltern einverstanden.

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