
Oerlinghausen. Von wegen Klimawandel, Waldsterben oder Borkenkäfer. Es waren früher vielfach die Ziegen, die für kahle Flächen in der Natur sorgten. Der Tönsberg ist gutes Beispiel dafür – über Jahrhunderte hinweg zeigte er sich weitgehend „oben ohne“, also ohne Bäume, Büsche, an manchen Stellen sogar ohne Grasbewuchs. Historische Ansichtskarten des Dorfes und des Tönsbergs bilden Alt-Oerlinghausen ganz anders ab als heute.
Die meisten Einwohner der Dorfschaft – laut einer Volkszählung um 1770 etwa 520 Menschen – wohnten entlang der Hauptstraße, die hufeisenförmig um den Tönsberg verlief. Man lebte hauptsächlich vom Handwerk, wie dem Leinenweben am heimischen Webstuhl oder später von der Tabakverarbeitung, wie das Zigarrenrollen am eigenen Küchentisch. Erste kleine Firmen, die „Tabakbuden“ kamen ab 1860 hinzu.
Viele Männer verdingten sich in den Sommermonaten in fernen Ziegeleien und kehrten erst im Herbst zur Familie zurück. Arbeitsplätze in der Industrie vor Ort gab es erst ab 1907, als die mechanische Weberei erbaut wurde.
Die Kuh des kleinen Mannes
Um die Ernährungslage zu verbessern, hielten die meisten Bewohner eine Kuh, ein Schwein vor allem aber eine Ziege im Stall. Die Ziege galt als das klassische Haus- und Nutztier der ärmeren Menschen, sie wurde auch die „Kuh des kleinen Mannes“ genannt. In fast jedem Haus lag neben beschränkten Wohnräumen auch ein Ziegenstall. Und die Ziegen trieb man tagsüber auf eine Weide oder einfach in die Heide der Senne.
Die Weiden und Heideflächen in Oerlinghausen gehörten – bis auf das Kirchland – den großen Meierhöfen Barkhausen, Menkhausen und Wistinghausen. So war der Tönsberg vollständig im Besitz des Gutes Barkhausen. Die Dorfschaft besaß allerdings einen Vertrag mit dem Gut, dass der Berg als Gemeindeweide für die Oerlinghauser Ziegen genutzt werden konnte.

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Des Morgens wurden die Ziegen also aus ihren Ställen in Richtung Tönsberg getrieben, abends holte man sie zurück in die Ställe. Den Ziegenbrink, der sich von der Alexanderkirche über die Tönsbergstraße bis zum Piperweg hinaufschlängelte, gab es schon vor fast 400 Jahren. Ihm folgten die Ziegen aus dem südlichen Teil Oerlinghausens auf den Berg. Denn dort oben wartete das Futter in Form von Gras, Heidekraut oder Strauchwerk auf sie. Ziegen sind Busch- und Strauchfresser.
Dornige Brombeersträucher als Delikatesse
Dornige Brombeersträucher sind für sie eine Delikatesse – dabei zupfen sie so geschickt die Blätter von den Zweigen, dass sie sich nicht weh tun. Auf ihrem Weg bergan vertilgten die Ziegen aber auch alles, was links und rechts des Weges fressbar war. Und sie machten auch vor Neuanpflanzungen nicht halt.
„Über die große Anzahl der Ziegen beschwerten sich die Barkhauser Gutsbesitzer beim Oerlinghauser Amtmann“, berichtet Werner Höltke in seinem Buch „Die Tweten“. Sie forderten ihn auf, dafür zu sorgen, dass höchstens zehn Ziegen auf dem Tönsberg weideten. Und man verlangte eine ständige Aufsicht, also einen Hütejungen, der die Tiere im Auge behielt. An eine solche harte Maßnahme hielten sich die meisten Dorfbewohner natürlich nicht. „Darauf hin verbot der Amtmann den Oerlinghausern, ihre Ziegen weiterhin auf den Tönsberg zu treiben“, heißt es. Bei Zuwiderhandlungen sollten sie eingefangen werden.
Das Einfangen war problematisch
Nach häufigen Mahnungen des Meiers (Gutsverwalter) von Barkhausen entschloss sich der Amtmann, einige Ziegen einzufangen, um die Ziegenbesitzer zu bestrafen. Doch das schien für den Oerlinghauser Amtsvorsteher und seine Helfer keine einfache Angelegenheit gewesen zu sein. In den Akten des Detmolder Staatsarchivs ist ein Kommentar des Amtmanns zu lesen: „Die Ziegen sind solchermaßen widerspenstig gewesen, dass man meinen könnte, in ihnen stecke ein böser Geist“. Trotzdem sei es ihm gelungen, einiger Ziegen habhaft zu werden und sie auf seinem Hof einzusperren. Um ihre Tiere zurück zu erlangen, mussten die Besitzer eine kleine Geldbuße entrichten.
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Die Bestrafungen wirkten recht gut. Der Gemeinderat stellte für geringen Lohn einen Hirten ein, der sich um die Ziegen auf dem Tönsberg kümmerte. „Danach hat es noch bis zum Jahre 1928 einen Ziegenhirten in Oerlinghausen gegeben“, heißt es in dem Twetenbuch.
Heutzutage erinnern übrigens viele Straßennamen an das tägliche Viehtreiben durch die Dorfschaft. Dazu gehören neben dem Ziegenbrink auch der „Triftweg“, den man früher „Kuhdrift“ nannte oder der „Hudeweg“ unter dem Menkhauser Berg. Als Hude wurde früher eine Weidefläche in der Heide oder im Wald bezeichnet.