Stadtgeschichte

Als die Lokomotiveden Ochsen ersetzte

Die alte Zementfabrik war ein riesiger Bau an der Nordseite des Tönsberg. Es gab gewaltige Erdbewegungen, einen Steinbruch und nur geringen wirtschaftlichen Erfolg.

An der neuen Lokomotive haben sich die Arbeiter der Zementfabrik im Jahre 1920 für ein Erinnerungsfoto aufgestellt. Zweiter von links in der oberen Reihe ist Wilhelm Höltke, der Vater von Ortshistoriker Werner Höltke. | © Repro: Horst Biere / Quelle: Archiv Höltke

Horst Biere
25.01.2025 | 25.01.2025, 00:00

Oerlinghausen. Es herrschte wohl so eine Art Goldgräberstimmung in Deutschland am Anfang des 20. Jahrhunderts. Auch in Oerlinghausen suchte man nach Bodenschätzen und deren industrielle Verarbeitung. Um 1910 jedenfalls erinnerte man sich an ein großes Ölschiefervorkommen an der Nordseite des Tönsberg, dort wo die heutige Breite Grund Richtung Gut Wistinghausen verläuft. Ein Investor namens Krümpelmann trat auf den Plan, der mit Unterstützung des früheren Wistinghauser Gutsbesitzers Eduard Busse den Ölschiefer aus dem Berg brechen lassen wollte, um daraus Öl und Schiefer zu gewinnen. „Nach gewaltigen Erdbewegungen, bei denen im Winter 1910/11 viele Ziegler aus Oerlinghausen mithalfen, wurde ein Damm vom Schiefersteinbruch bis zur noch zu bauenden Fabrik aufgeschüttet“, sagt Werner Höltke, dessen Vater später in der Produktion arbeitete. Doch recht schnell ging ihnen das Geld aus. Das Bergwerksunternehmen und die Fabrik scheiterten.

Ein Berliner Bankenkonsortium erwarb die Immobilie und übergab sie einem Zementhersteller, der „Record-Cement-Industrie“. Nun kam mehr Schwung in die Sache. Das Unternehmen plante, den Schiefer für die Zementherstellung zu gewinnen. Ein großes Fabrikgebäude wurde errichtet – mit Mahlwerken für den Schiefer und mit getrennter Ölgewinnung. Doch immer noch lief die Produktion offenbar wenig rationell. Aber der Bedarf an Baumaterial und an Öl war jetzt riesig, nachdem der Erste Weltkrieg 1914 begonnen hatte. Mit viel Lärm, Gestank und erheblicher Umweltbelastung stellte das Unternehmen nun einerseits Zement und andererseits als Nebenprodukt Schmieröl her.

In der Gemeinde Oerlinghausen rumorte es wegen des lauten, stinkenden Betriebs. Man fürchte um seinen Ruf als „Sommerfrische“, begründete die Gemeinde eine Eingabe an das Fürstliche Verwaltungsamt. Doch wegen der „kriegswichtigen“ Materialien ließ die lippische Regierung den Einwand nicht gelten. Zudem war es einem Chemiker von Record-Cement gelungen, einen modernen Zementstoff zu entwickeln, der unter Wasser verarbeitet werden konnte, „Antiaqua-Zement“ hieß das Produkt.

Der Diebstahl des Zugochsen änderte einiges

Insgesamt betrachtet schien Record-Cement jedoch recht vorsintflutlich zu arbeiten. So nutzte der Betrieb beispielsweise noch am Ende des Ersten Weltkriegs im Jahre 1918 einen Zugochsen, um die Loren mit Schiefergestein von der Abbruchstelle zur Fabrik zu befördern. Aber damit war Anfang 1919 Schluss – weil der Ochse gestohlen wurde. „Aus dem verschlossenen Stall der Zementfabrik ist in der Silvesternacht ein rotbunter beschlagener Ochse mittels Einbruch gestohlen worden“, zitiert Werner Höltke, der schon vor längerer Zeit einen Vortrag über die Fabrik gehalten hat, einen Polizeibericht von damals. Das Tier sei über den Tönsberg, durch die Senne, am Bahnhof Kracks vorbei in Richtung Brackwede geführt worden, wo sich dann die Spur verlor. Der gestohlene Ochse machte es jedoch notwendig die Zufuhr des Materials aus dem Steinbruch zu modernisieren. Das Zementwerk kaufte eine kleine Dampflok bei Borsig in Berlin.

Der Transport der Lokomotive vom Bahnhof Helpup zur Fabrik an der Oetenhauser Straße muss wohl ein echtes Schauspiel gewesen sein. „Die Lok wog 4,5 Tonnen und wurde über die Bahnhofstraße am Alten Krug vorbei und am Spitzenkrug entlang Richtung Oerlinghausen gefahren, indem fortwährend Schienenstücke von fünf Metern Länge vor die Lok gelegt wurden“, sagt Höltke.

Die Firma beschäftigte damals zwischen 15 und 30 Arbeiter und drei Angestellte. Obwohl der Bedarf an Zement in den 1920er Jahren enorm war, lief die Produktion oft nur auf Sparflamme. Der Mangel an Kohle aus dem besetzten Ruhrgebiet und die aufkommende Inflation führten oft zum Stillstand der Herstellung. Und die Zahlung der Löhne bildete gerade in der Zeit der Hochinflation 1923 ein großes Problem. Der Lagerverwalter und der Buchhalter wanderten zwei Mal in der Woche mit Rucksack und Koffern zur Lippischen Landesspar- und Leihekasse im Stadthotel. Vollgepackt mit Geldscheinen ging es zurück, um sogleich die Arbeiter zu entlohnen.

1934 wird der Schornstein gesprengt

Es schien wieder aufwärtszugehen, nachdem die Inflation überwunden war, doch die Rauch- und Geruchsbelästigung für die Umgebung war längst nicht behoben. Auch ein neuer Brennofen konnte ab 1924 den Niedergang nicht aufhalten, denn immer mehr stellte sich heraus, dass das abbaubare Schiefervorkommen nur noch sehr gering war. Auch die verstreut liegenden Lagerstätten ließen keine gewinnbringende Produktion mehr zu. 1928 wurde der Betrieb der Zementfabrik eingestellt. Das Ende des Fabrikgebäudes begann 1934 mit der Sprengung des hohen Schornsteins durch Pioniere der Reichswehr aus Minden. Werner Höltke sagt: „Die restlichen Gebäude wurden 1938 von einem Sprengkommando aus Düsseldorf in dreiwöchiger Arbeit für 8.000 Reichsmark dem Erdboden gleichgemacht.“ Bereits 1936 hatte übrigens die Gutsverwaltung des Gutes Wistinghausen die Grundstücke zurückerworben.

Aber letztlich war es der Zementfabrik zu verdanken, dass nach dem Zweiten Weltkrieg viele zerstörte Häuser Oerlinghausens wieder recht schnell aufgebaut werden konnten. Mit Handwagen und Pferdefuhrwerken holten die Bürger 1945/46 die Ziegelsteine, die nach der Sprengung des Fabrikgebäudes noch herumlagen, in die Stadt. So wurde zum Beispiel das Haus Blanke in der Pfarrstraße in der Nähe der Alexanderkirche fast ausschließlich mit den Steinen der Zementfabrik wieder aufgebaut.