Tod eines Mädchens (12): Klinikum Lippe zahlt Eltern 100.000 Euro Schmerzensgeld

Detmold. Nichts kann wiedergutmachen, was im Dezember 2019 am Klinikum Lippe passiert ist. Damals starb eine Zwölfjährige völlig unerwartet im Detmolder Krankenhaus, wo ihr lediglich wegen eines gewöhnlichen Magen-Darm-Infektes geholfen werden sollte. Nun hat die Zivilkammer des Landgerichts anhand eines eingeholten medizinischen Gutachtens entschieden: Dem behandelnden Arzt und den damals involvierten Pflegekräften sind grobe Behandlungsfehler unterlaufen. Das Gericht hat einen Vergleich vorgeschlagen. Das Klinikum Lippe ließ sich auf diesen kurz vor Weihnachten ein und zahlte der hinterbliebenen Familie nun laut Landgericht Detmold ein Schmerzensgeld, Hinterbliebenengeld und Schadensersatz von etwas mehr als 100.000 Euro. Das Geld steht als symbolische Antwort dafür, worüber im parallel noch ausstehenden Strafprozess wegen fahrlässiger Tötung weiterhin gestritten wird. Hätte der Tod des Kindes verhindert werden können? Eltern erlitten &bdquo;schwerwiegend seelisches Leid“ Der Vorschlag des Landgerichts deutet genau darauf hin. Die Kammer verkennt dabei laut Landgerichtssprecher Dr. Wolfram Wormuth nicht, dass der Verlust eines Kindes &bdquo;weder durch eine Geldzahlung ausgeglichen noch gesühnt werden“ kann. Die Eltern haben &bdquo;unzweifelhaft ein erhebliches und schwerwiegendes seelisches Leid erlitten“, weshalb das Gericht den vorgeschlagenen Betrag für angemessen hält. Laut Erika Leimkühler, Fachanwältin für Medizinrecht und Versicherungsrecht aus Herford, bedeutet die Entscheidung für die betroffene Familie vor allem eines: ein Stück weit Gewissheit und Bestätigung. &bdquo;Für die Eltern ist durch das Gutachten ihre Einschätzung bestätigt worden“, sagt Leimkühler, die die Familie sowohl zivilrechtlich als auch im Strafverfahren vertritt. Die Mutter war dem Kind auf der Station über Nacht nicht von der Seite gewichen, hatte mehrfach die Krankenschwestern gerufen, weil es der Tochter immer schlechter ging. Dennoch passierte nichts. Am nächsten Morgen blieben alle Reanimationsversuche erfolglos. Jetzt kommt Prof. Dr. Sebastian Bergrath, Facharzt für Anästhesiologie und Chefarzt des Zentrums für klinische Akut- und Notfallmedizin in Mönchengladbach, in seinem für den Zivilprozess erstellten Gutachten zu dem Schluss, dass maßgeblich grobe ärztliche und pflegerische Fehler zu dem Tod des Mädchens geführt haben. Es seien mehrere Entscheidungen getroffen worden, &bdquo;die schlechterdings nicht hätten passieren dürfen“. Demnach habe der behandelnde Arzt eine &bdquo;falsche Wahl“ bei der Infusionslösung getroffen, um den offensichtlichen Flüssigkeitsverlust des Kindes auszugleichen. Dieser hätte aus Sicht des sachverständigen Facharztes sofort mit einer isotonischen Elektrolytlösung behandelt werden müssen. Genau zu diesem Ergebnis war bereits der von der Staatsanwaltschaft Detmold beauftragte Gutachter im Strafverfahren gekommen. Gutachter sicher: Tödlicher Verlauf hätte verhindert werden können Prof. Bergrath führt darüber hinaus aus, die Patientin sei auf der Station unzureichend überwacht, ihre Vitalfunktionen nicht kontrolliert und daher die lebensbedrohliche Situation nicht erkannt worden. Der Abfall der Körpertemperatur des Mädchens auf 35 Grad sei als &bdquo;absolutes Alarmsignal zu verstehen und hätte zusammen mit der klinischen Verschlechterung zu einer sofortigen Reaktion führen müssen“, heißt es im Gutachten. &bdquo;Zu diesem Zeitpunkt war der tödliche Verlauf noch abwendbar. Durch die Pflegekräfte fand eine offensichtliche Bagatellisierung und ein Nichterkennen der Notsituation statt.“ Hätten die Pflegekräfte also genau erfasst, dass sich Hände und Füße des Kindes kühl anfühlten und blau verfärbten, wie es die Mutter ihnen gegenüber bemerkt hatte, hätten sie unbedingt handeln müssen. Wäre darüber hinaus der Abfall der Körpertemperatur als akut lebensbedrohlich richtig eingeschätzt worden und sofort ein Arzt hinzugerufen worden, dann hätte dem Sachverständigen nach eine realistische Chance bestanden, das Leben des Kindes zu retten. &bdquo;Der Arzt und auch die Pflegekräfte haben die Symptome der Tochter meiner Mandanten nicht hinreichend ernstgenommen“, sagt Leimkühler. Verfahren gegen drei Krankenschwestern eingestellt Die Eltern mussten derweil im Sommer 2023 vor dem Amtsgericht Detmold mitansehen, wie ein Strafverfahren nach dem anderen gegen drei von damals vier involvierten Krankenschwestern gegen Geldauflagen zwischen 2.000 und 3.000 Euro eingestellt wurde. Die Richterin hatte nicht sicher feststellen können, ob die Pflegekräfte etwas hätten anders machen können, um das Kind zu retten. Weil Rechtsanwältin Erika Leimkühler am letzten Prozesstag im September 2023 noch ein unabhängiges Pflegegutachten beantragt hatte, wird die übrig gebliebene Krankenschwester wieder auf der Anklagebank sitzen. Zuvor hatte ein von der Verteidigung ins Spiel gebrachter Pflegegutachter sinngemäß ausgesagt, solch erfahrenen Krankenschwestern könnten gar keine Fehler unterlaufen. Die Nebenklagevertreterin wollte daher ein für alle Mal klären, inwieweit die Krankenschwestern verantwortlich sind. Dabei gehe es nicht primär darum, ein erhöhtes Strafmaß zu erzwingen, sagt Leimkühler. Das krankende Gesundheitssystem und die offensichtlich deutlichen Mängel in der Organisation am Klinikum Lippe müssten aber lückenlos aufgearbeitet werden. Das sei man dem verstorbenen Kind schuldig. Nicht mal der Aufnahmebogen des Mädchens habe es in den ersten Stunden von der Notaufnahme auf die Station geschafft oder sei überhaupt angefordert worden, sagt Leimkühler. Auch das bemängele Prof. Bergrath. Weil sich im derzeit ausgesetzten Strafprozess im Sommer 2023 zwei völlig konträre medizinische Gutachten gegenübergestanden haben, ist aktuell ein über die bayerische Ärztekammer benannter Sachverständiger per Gerichtsbeschluss beauftragt worden, den Fall des Mädchens erneut zu begutachten. Zur Erinnerung: Der von der Staatsanwaltschaft Detmold beauftragte Gutachter, ein ehemaliger Chefarzt einer Kinderklinik, sprach damals schon von &bdquo;desaströsen Behandlungsfehlern“, während ein von der Verteidigung hinzugezogener amtierender Chefarzt den Tod des Kindes für &bdquo;nebulös und unerklärbar“ hielt. Neuauflage des Strafprozesses steht noch aus Rechtsanwältin Erika Leimkühler hat nun beantragt, das für das Zivilverfahren erstellte medizinische Gutachten ebenfalls in den Strafprozess mit einfließen zu lassen. Das Amtsgericht Detmold teilt dazu lediglich mit, die zuständige Strafrichterin habe das Gutachten erhalten und zu den Verfahrensakten genommen. Grundsätzlich könnten die Erkenntnisse daraus auch in einem Strafverfahren verwendet werden, heißt es. Bis die Eltern juristische Klarheit bekommen, wird es aber noch dauern. Bei der Neuauflage des Strafprozesses werden sich dann der das Kind in der Notaufnahme behandelnde Honorar-Arzt (50) und eine Krankenschwester (67) wegen fahrlässiger Tötung verantworten. Das Klinikum Lippe hat das Schmerzensgeld im Zivilprozess gezahlt, ohne anzuerkennen, rechtlich dazu verpflichtet zu sein – wie es in einem Vergleich oft üblich ist. Damit seien alle Ansprüche &bdquo;endgültig abgegolten“, schreibt Klinikumssprecher Christian Ritterbach auf Anfrage, ohne auf den Fall näher einzugehen. Laut Ritterbach setzt das Klinikum Lippe alles daran, unerklärte Todesfälle zu ergründen. Der Tod eines Kindes sei immer tragisch und mache alle Beteiligten betroffen, heißt es. Ein Klage- und Strafverfahren könne den Hinterbliebenen daher zumindest Klarheit und Gerechtigkeit ermöglichen.

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