Vertriebener erinnert sich: „Das erste Jahr in Lippe war ein Kampf ums Überleben“

Horn-Bad Meinberg. 20. Februar 1946: Eigentlich war an diesem Morgen der Kirchgang geplant. Und so sind Mutter Helene Klesse und ihre drei Kinder, darunter auch der mittlere Sohn Martin, fast acht Jahre alt, schon angezogen, als es an der Tür laut wird. Mit vorgehaltenen Karabinern dringt die polnische Miliz in die Bauernstube ein, um den Befehl durchzusetzen: Die deutschen Bewohner haben 15 Minuten Zeit, um ihre Wohnungen zu verlassen und sich in der Dorfmitte zu versammeln. Mitnehmen dürfen sie nur das, was sie am Leibe tragen und maximal 20 Kilo Handgepäck. Wenn man den heute 85-jährigen Martin Klesse fragt, was ihm von jener Zeit kurz nach dem Krieg am meisten in Erinnerung geblieben ist, dann ist es diese Szene - das Trauma der Vertreibung. Begräbnis kurz vor Weihnachten Martin Klesse wird am 26. April 1938 in Schwenz, im schlesischen Kreis Glatz geboren. Er ist gerade 20 Monate alt, als sein Vater einem Verkehrsunfall mit Fahrerflucht zum Opfer fällt. Mutmaßlich von einem Wehrmachtssoldaten angefahren, gerät er unter sein eigenes Pferdefuhrwerk und wird überrollt, achtlos am Straßenrand liegen gelassen und stirbt wenig später. Im Bauernhaus wird er aufgebahrt und einen Tag vor Heiligabend 1939 begraben: &bdquo;Das furchtbare Ereignis ist bis heute bei mir hängen geblieben“, erzählt der Bad Meinberger. Die Mutter bleibt mit den drei Kindern nicht lange allein, sie heiratet 1941 den Landwirt Bruno Götze. Und der bringt sein Erbteil ein, sodass der Hof bald schuldenfrei ist. 1942 wird der Stiefvater eingezogen. Vom Krieg ist in Schwenz ansonsten nichts zu spüren: &bdquo;Unsere einzige Verbindung zum Weltgeschehen bestand aus einem kleinen schwarzen Volksempfänger, der auf dem Küchenschrank stand.“ Dort gibt es jedoch nur positive Meldungen. Erst Anfang 1945 ist die Rede davon, dass die Russen gen Westen vordringen: &bdquo;Dass der Krieg verloren ist, haben wir jedoch erst erfahren, als die Rote Armee in unser Dorf einmarschierte.“ Soldaten bedrohen Familie in Schwenz In Schwenz kommt es wie überall im Land zu Überfällen und Übergriffen: &bdquo;Wir hatten im ersten Stock unser Schlafzimmer, wo meine Mutter mit uns drei Kindern im Bett lag. Als die Soldaten in unser Haus eindrangen, ist meine Mutter aus dem Fenster gesprungen und hat sich versteckt.“ Die drei Kinder schreien wie am Spieß: &bdquo;Und Kindergeschrei konnten die Russen nicht ab, sie zogen weiter.“ Während Martin Klesses Mutter unversehrt bleibt, hat eine junge Frau, die aus dem ausgebombten Dortmund in Schwenz Schutz gesucht hat und in der Leibzucht wohnt, weniger Glück. Sie wird Opfer der Vergewaltiger. Die Rotarmisten beschlagnahmen sämtliche Tiere auf dem Bauernhof, nur vier Kühe kann Martin Klesses Onkel Fritz in einer Scheune verstecken. Die im Keller vergrabenen Wertsachen der Familie werden dagegen alsbald entdeckt und mitgenommen. &bdquo;Aber immerhin hatten wir noch die Milch von den vier Kühen.“ Polnische Aussiedler sorgen für Schwierigkeiten Ein halbes Jahr später ziehen die Russen ab, es folgen im Herbst 1945 Polen, die selbst ausgesiedelt wurden und nun in Schwenz ein neues Zuhause bekommen: &bdquo;Die haben sich aufgeführt wie die Herren, meine Mutter und mein Onkel mussten sie bedienen. Was die Russen noch nicht mitgenommen hatten, haben sie eingezogen.“ Irgendwie ahnt die Mutter wohl, dass die Tage in der schlesischen Heimat gezählt sind. Sie bereitet für alle Rucksäcke vor – als die Miliz vor der Tür steht, muss es schnell gehen. Es ist Winter, draußen herrschen Schnee und Eis. Neun Kilometer Fußmarsch nach Glatz liegen vor den Vertriebenen, überwiegend Frauen, Kinder und alte Menschen: &bdquo;Wer nicht mehr konnte, bekam einen Schlag mit dem Gewehrkolben. Und wer dann liegen blieb, ist wohl erfroren.“ Die Reise endet vorerst im Finanzamt: &bdquo;Dort wurden wir alle in einem großen Saal untergebracht, der mit Stroh ausgelegt war. Eine Woche lang – und jeden Tag kamen mehr Leute.“ Obwohl es gefährlich ist, kehrt Onkel Fritz noch einmal zurück ins Bauernhaus und holt Dinge, die der Familie das Überleben sichern: warme Kleidung, Decken, Bettzeug und Schinken. &bdquo;Das war unser Glück“, ist Klesse überzeugt. Vertriebene werden auf Güterwaggons gescheucht Dann werden die Vertriebenen auf Güterwaggons aufgeteilt: &bdquo;Erst dachten wir, es geht nach Sibirien. Aber als der Zug gen Westen fuhr, waren wir froh.“ Im Waggon ist auch ein junger Bursche aus dem Dorf, der zum Organisator wird: Er kann einen Kanonenofen besorgen, auf dem die Passagiere fortan rohe Kartoffeln und Rüben kochen, die sie bei jedem Stopp von den Feldern aufsammeln - mit Brennholz, das sie ebenso wie Lebensmittel erbetteln. Immer wieder sterben Menschen während der Fahrt: &bdquo;Die wurden einfach aus dem Zug geworfen. Ein Menschenleben zählte nichts.“ Doch bei all der Unmenschlichkeit gibt es auch wahre Wunder: &bdquo;Eine unserer Nachbarinnen hatte einen Säugling dabei, der noch gestillt wurde - und der hat überlebt und wohnt heute noch in Bad Meinberg“, erzählt Klesse. Ankunft der Familie in Detmold Der Zug stoppt nach Tagen in Detmold, Helene Klesse und ihre Kinder werden in Bad Meinberg im Haus Schafenius in einem kleinen Zimmer einquartiert – vollkommen verschmutzt und nur noch mit den Sachen ausgestattet, die sie am Leibe tragen, sind sie alles andere als willkommen: &bdquo;Das erste Jahr in Lippe war ein Kampf ums Überleben. Viele Einheimische hielten uns für Polen, sie sagten, wir sollten da hingehen, wo wir hergekommen waren.“ Martin Klesse zieht mit seiner Mutter und den Geschwistern mehrfach um, und er erinnert sich an Schikanen beim Brennholz-Sammeln oder Aufsuchen von ein paar Rüben auf dem Feld. Und ans Betteln auf den umliegenden Höfen. In die Volksschule wird er kurz nach seinem achten Geburtstag noch einmal eingeschult – denn seine Schulzeit in Schwenz endete bereits nach wenigen Wochen im Chaos des russischen Einmarsches 1945. Als er nach der vierten Klasse eine Gymnasialempfehlung bekommt, winkt der inzwischen heimgekehrte Stiefvater ab: Das Schulgeld kann die Familie nicht aufbringen. Er schließt die Volksschule ab, macht eine Maurerlehre, besucht später die Berufsaufbauschule neben der Arbeit und studiert Bauingenieurwesen. Ein Werdegang, geprägt von dem unbedingten Willen, etwas aus einem Leben zu machen, das bei null anfing.

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