Vertreibung aus Schlesien: Erich Woitelle aus Lage erlebt Gewalt und Todesangst

Lage. Mehrmals ist Erich Woitelle dem Tod entronnen. Der heute 94-Jährige stammt aus einem Ort namens Frauenhain in Schlesien. Er wuchs bei seinen Großeltern auf, flüchtete gemeinsam mit ihnen, seiner Tante und deren zweijähriger Tochter, vor der näher rückenden Roten Armee. Später kehrte er zunächst zurück, wurde letztlich aber von den polnischen Neubürgern vertrieben. Über Umwege gelangte er nach Lage. Doch bis er dort in Sicherheit war, erlebte er etliche lebensgefährliche Situationen. Als der junge Erich seine Maschinenschlosser-Lehre am 1. April 1944 in seiner Heimat beginnt, weiß er noch nicht, dass es bis zum Abschluss ganze fünf Jahre dauern wird. Er hat am 16. Mai Geburtstag, ist also noch nicht mal 14 Jahre alt, als die Ausbildung beginnt. Der Opa ist Tankwart auf dem Flugplatz, die Oma arbeitet in der Landwirtschaft - dort hilft Erich aus. Deshalb kennt er sich mit Pferden aus - das ist der Grund, warum der Bauer Beutner, bei dem seine Oma arbeitet, ihm das Pferdegespann mit &bdquo;Rita“ und &bdquo;Maja“ anvertraut, als sich der Treck Richtung Westen aufmacht. Flucht bei Nacht und eisigen Temperaturen Es ist der 23. Januar 1945, Lautsprecherwagen sind am Nachmittag durch die Straßen gefahren und haben die Bevölkerung aufgefordert, das Dorf vor Einbruch der Dunkelheit zu verlassen. Nicht alle Bewohner flüchten: &bdquo;Manche hatten keine Möglichkeit, andere dachten, dass der Russe nicht kommen würde.“ &bdquo;Es war minus 22 Grad kalt, und es lag hoher Schnee“, erinnert sich Woitelle, damals knapp 15 Jahre alt, an die Abfahrt. Die Wagen sind mit Gepäck beladen, manche Dorfbewohner haben gar nicht viel mitgenommen, weil sie damit rechnen, schnell wieder nach Frauenhain zurückkehren zu können. Doch es werden Monate vergehen - und am Ende ist nichts mehr, wie es war. Acht Tage benötigt der Treck bis Donnerau im Kreis Waldenburg. Erich Woitelle erinnert sich an die schlimmste Fahrt seines Lebens: Es ist stockdunkel, der letzte Kilometer vorm Ortseingang steil und spiegelglatt. Die Pferde quälen sich den Anstieg hoch, liegen immer wieder auf den Knien, schaffen es aber letztlich doch. Mord an einem KZ-Häftling kurz vor Kriegsende Ein kleines, zugiges Zimmer unter dem Dach bekommen die Flüchtlinge zugewiesen. Erich hat keine Möglichkeit, seine Lehre fortzusetzen. Also treibt er sich mit anderen Jugendlichen in den Nachbarorten herum - und wird Zeuge eines furchtbaren Verbrechens. Ein Wachmann habe auf offener Straße auf einen KZ-Häftling eingeschlagen, seinen Hund auf den Wehrlosen gehetzt - und ihm schließlich die Hundeleine um den Hals gebunden. Zwei andere Häftlinge hätten ihn mit der Leine um den Hals die Straße entlang schleifen müssen, bis er tot gewesen sei. &bdquo;Dieses Erlebnis ist mir bis heute in Erinnerung“, sagt der 94-Jährige. Ein Menschenleben sei damals, so kurz vor Ende des Krieges und auch danach, nichts wert gewesen. Das erfuhr Erich Woitelle auch am eigenen Leibe. Überfallen und ausgeraubt auf dem Weg in die Heimat Kurz vor Ende des Krieges, am 7. Mai 1945, sollen die Frauenhainer, die noch in Donnerau leben, gen Bayern weiter ziehen, um den Russen zu entgehen. Doch daraus wird nichts mehr. Als der Treck - Erich hat wieder dasselbe Pferdegespann zu fahren wie einige Monate zuvor - eine Eisenbahnbrücke passieren will, bricht Chaos aus: &bdquo;Die Straßen waren verstopft mit Trecks und deutschen Soldaten auf dem Rückzug. Dann hieß es, die Brücke solle gesprengt werden.“ Es geht nicht vor noch zurück. Mit knapper Not kann er die Pferde bändigen und umkehren. Am nächsten Tag ist der Krieg zu Ende, wenig später kehren die Dorfbewohner heim. Schon auf dem Weg bekommen die Deutschen ein Gefühl davon, was ihnen zu Hause blüht: Der Treck wird von Russen und Polen und ehemaligen Fremdarbeitern mehrfach überfallen, Pferde werden geraubt. Als der Treck ankommt, läuten einige Frauenhainer, die vorausgefahren waren, die Kirchenglocken. &bdquo;Den Älteren ist das so nah gegangen, die haben geweint.“ Handgranate explodiert in der Küche Von Frauenhain ist jedoch nicht viel übrig, Häuser sind zerstört oder geplündert, der unerträgliche Verwesungsgeruch toter Tiere, die zuhauf in den Straßengräben gelegen hätten, habe in der Luft gelegen. Der Zusammenhalt unter den Familien sei in jener Zeit sehr groß gewesen, erinnert sich der 94-Jährige. Seine Familie lebt aus Angst vor russischen Übergriffen zunächst mit anderen unter einem Dach - da passiert es. In der Küche auf der Fensterbank entdeckt Erich den Zünder einer Eierhandgranate. Unbeholfen dreht er daran - es gibt eine Explosion, seine neben ihm stehende Klassenkameradin wird verletzt: &bdquo;Ich habe wie durch ein Wunder nichts abbekommen, aber Gertrud hatte Jahrzehnte später - bis zu ihrem Tode - noch Splitter in Armen und Beinen.“ Noch mehrfach entkommt er lebensgefährlichen Situationen: Einmal versucht er mit anderen Jugendlichen, den russischen Soldaten Pferde von der Wiese zu stibitzen und wird erwischt. Ein anderes Mal müssen die Jungs für die russische Kommandantur Kühe hüten. Als sie abends zurückkehren und ein Kalb fehlt, droht ihnen die Erschießung. Mit vereinten Kräften suchen die Dorfbewohner fieberhaft nach dem Kalb - und finden es glücklicherweise entkräftet und verirrt in einem Feld. Die Gefahr ist gebannt. Vertreibung, Hunger und Kälte: Der Weg in den Westen Ein anderes Mal, sagt Erich Woitelle, habe ihm seine Oma das Leben gerettet. Wegen eines falsch gedeuteten Blickes habe ihn ein polnischer Polizist erschießen wollen - die Oma drängte sich dazwischen und verhinderte das Schlimmste. Ein Menschenleben war eben nichts wert, egal, auf welcher Seite: &bdquo;Und beschweren konnten wir uns nirgends.“ Mitte Juni 1946 muss Erich Woitelle mit seiner Oma und der Tante die Heimat endgültig verlassen. Mit wenig Handgepäck, das im 15 Kilometer entfernten Sammellager von den Polen nochmals kontrolliert und geplündert worden sei, werden die Frauenhainer aus ihrem Dorf vertrieben. Eine schlimme Erinnerung, doch es gibt in all dem Leid auch einen besonders schönen Moment: Franek, ein Pole, bei dem er regelmäßig gearbeitet hatte, nimmt ihn zum Abschied zur Seite und schenkt ihm 300 Reichsmark. Dann geht es mit 30 anderen in einem Güterwaggon auf eine tagelange Fahrt, ohne Lebensmittel oder Wasser: &bdquo;Jeder hat von dem gelebt, was er mitgenommen hat.“ Letztlich landet die Familie im Westen, in Lüdenscheid bezieht sie ein winziges Mansardenzimmer: &bdquo;Wenn wir auf die Toilette mussten, mussten wir bei der Familie, der das Haus gehörte, schellen“, berichtet Erich Woitelle von der erniedrigenden Situation. Es beginnt die Zeit des Hamsterns, Hungerns und Frierens. Gesellenbrief nach fünf Jahren in der Tasche Immerhin kann Erich Woitelle im August endlich seine Lehre fortsetzen. Doch im Dezember muss er mit den Großeltern erneut umziehen. Lüdenscheid ist überfüllt mit Flüchtlingen, die nun verteilt werden. Die Familie landet in einer kleinen Wohnung in Lage. Erich Woitelle kehrt im März 1947 nochmals nach Lüdenscheid zurück, weil er hofft, seine Lehre fortsetzen zu können. Aber bereits sechs Monate später muss er die Stadt wieder verlassen. In Lage kann er bei der Firma Reker Maschinenfabrik und Baggerbau letztlich seine Lehre im September 1947 wieder aufnehmen. Im April 1949 hat er den Gesellenbrief endlich in der Tasche. Nach fünf Jahren! &bdquo;Wir Heimatvertriebenenen haben im Westen Deutschlands eine neue Heimat gefunden, in der wir es aber am Anfang nicht leicht hatten“, sagt er rückblickend. Er heiratet eine gebürtige Schlesierin, die er im Ostdeutschen Heimatchor kennenlernt. Das Paar bekommt zwei Kinder, kauft sich in Lage ein Haus, er findet später eine Stelle als kaufmännischer Angestellter bei den hiesigen Stadtwerken. Mahnung mit Blick auf den Ukraine-Krieg Dass sein Leben in Lage eine gute Wendung genommen hat, dafür ist der 94-Jährige dankbar - vor allem seinen Großeltern, die ihm &bdquo;Wärme geschenkt“ hätten, wie er sagt. In seine alte Heimat fährt er mehrfach, auch mit Kindern und Enkeln, und schließt dort Freundschaften. Am 27. April 2002 wird am Friedhof von Frauenhain auf seine Initiative eine Gedenktafel für &bdquo;die verstorbenen deutschen Einwohner bis 1947“ enthüllt. Erich Woitelle hat seine Geschichte 2017 in einem persönlichen Büchlein detailliert niedergeschrieben. Auch der LZ wollte er seine Geschichte erzählen - nicht um anzuklagen, sondern um zu mahnen. Der Ukraine-Krieg wühlt auf.

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