Darum stehen die Behindertenwerkstätten in Lippe teils massiv unter Druck

Kreis Lippe. Die Werkstätten für Menschen mit Behinderung kämpfen. Ob es ums Überleben geht, dazu gibt es unterschiedliche Lesarten. Rudolf Langemann, Vorstandsvorsitzender der Lebenshilfe Lemgo, wird zumindest deutlich: Das eigentlich Undenkbare, dass Behinderten-Werkstätten in finanzielle Schwierigkeiten geraten könnten, wolle er mittelfristig nicht ausschließen. Dabei genießt das System große Bedeutung und Akzeptanz – es bietet bundesweit mehr als 300.000 Menschen einen Job, den diese sonst nicht oder nur schwer finden würden. Meist aufgrund einer geistigen Einschränkung. Auch in Lippe gibt es vier solcher Einrichtungen, teils mit mehreren Standorten und Hunderten Mitarbeitern. Die Lebenshilfe Lemgo betreibt Werkstätten in der Lemgoer Laubke, in Lieme, Bega und Elfenborn. Und, Stichwort Überlebenskampf: Sie hat den Steigerungsbetrag temporär, aber drastisch gekürzt. Dieser ist eine von drei Lohnkomponenten, die die Menschen mit Behinderung für ihre Tätigkeit erhalten. Und sie ist die Komponente, die Leistung belohnt. Trotzdem geht es mit dem Bonus von 85 auf 15 Prozent runter. &bdquo;Ein Schlag ins Gesicht“, bekräftigt der Betriebsleiter der Werkstätten Laubke und Großer Stein, Thomas Plöger. Rücklagen sind aufgebraucht Wie bei &bdquo;normalen“ Arbeitern und Angestellten ist Lohn &bdquo;der Anreiz, die Würdigung und Wertschätzung der Arbeit“, sagt Plöger. Leicht hat es sich die Lebenshilfe mit den Einschnitten nicht gemacht, versichert Vorstand Langemann. &bdquo;Bis Ende 2022 haben wir den Steigerungsbetrag aus Rücklagen finanzieren können. Die sind aufgebraucht.“ Damit steht die Lebenshilfe Lemgo insgesamt noch passabel da. Langemanns Sorgen teilt Markus Toepffer, Chef des Werkstattbereichs &bdquo;eeWerk“ der Stiftung Eben-Ezer, die seit 2022 zum Bethel-Verbund gehört. Dabei sieht die Lage bei Eben-Ezer selbst ganz gut aus. &bdquo;Während die ,normalen Mitarbeiter recht ordentliche Tariferhöhungen bekommen, könnten wir kaum ertragen, wenn es nicht gelingt, Steigerungen bei den behinderten Menschen zu realisieren“, sagt Toepffer. Deswegen hat Eben-Ezer jeden Cent zweimal umgedreht und etwa Instandhaltungen verschoben, um nun in den Lohnstufen mit Steigerungsbetrag auf durchschnittlich sieben Prozent Lohnplus zu kommen. &bdquo;Wenn wir das 2024 nicht erwirtschaften können, werden aber wir an unsere Rücklagen müssen“, kündigt eeWerk-Leiter Markus Toepffer an. Kurzum: Lebenshilfe, Eben-Ezer & Co. müssen die Gürtel ein paar Nummern enger schnallen. Wie konnte es dazu kommen? Grundbetrag steigt von 80 auf 119 Euro Eine Werkstatt zahlt jedem Menschen mit Behinderung, egal wie leistungsfähig und produktiv er ist, einen Grundbetrag. 2019 hat der Bundestag beschlossen, diesen von 80 Euro monatlich in vier Schritten auf 119 Euro zu heben: ein Plus von 50 Prozent. Geld, das die Werkstätten selbst erwirtschaften müssen, mit der Arbeitskraft von Menschen, von denen viele am regulären Arbeitsmarkt (leider) keine Chance hätten. Toepffer wird noch deutlicher: Die Stiftung Eben-Ezer habe traditionell einen hohen Anteil von schwerst- und mehrfachbehinderten Menschen in den Werkstätten. Er liegt bei 40 Prozent. &bdquo;Frauen und Männer, denen es nicht gelingt, selbst den minimalen Grundbetrag auf Monatssicht zu erwirtschaften.“ Und steigt der Sockelbetrag, bleibt weniger für den Bonus übrig, der Einsatzwillen und Leistungsbereitschaft belohnt. Für die Lebenshilfe schlägt sich die Erhöhung des Grundbetrages mal eben mit 350.000 Euro in der Bilanz nieder. Aus anderen Firmenteilen querzufinanzieren, ist Werkstätten verboten, da sie qua Gesetz besondere Unternehmen sind, die auch nicht gewinnorientiert arbeiten dürfen. Langemann spricht von einem &bdquo;engen Korsett“, das gerade so gut sitzen soll, dass Löhne und Leistungszulagen fließen, aber nicht zu viel Geld übrig bleibt. Corona-Pandemie wirkt noch nach Vom Ergebnis müssen die Werkstätten 70 Prozent auszahlen, maximal 30 Prozent dürfen in Rücklagen fließen. Ist alles Eitelsonnenschein gibt es mehr Weihnachtsgeld. Heinrich Zertik, CDU-Vertreter in der Landschaftsversammlung, fasst die Krux mit den höheren Grundbeträgen zusammen: &bdquo;Da zunächst die Grundlöhne zu finanzieren sind, bleibt für Steigerungsbeträge für leistungsfähigere Beschäftigte weniger über.“ Neben dem Beschluss für einen höheren Grundbetrag kam auch noch Corona. &bdquo;Seit Jahren sind die Werkstätten im Krisenmodus“, sagt Langemann. Galten die Menschen mit Behinderung doch in der Pandemie als vulnerable, besonders gefährdete Gruppe. Sie wurden von einem Tag auf den anderen nach Hause geschickt. Wie Betriebsleiter Plöger sich erinnert, hätten die FABs, die Fachkräfte zur Arbeits- und Berufsförderung, den behinderten Menschen sogar Werkzeug und Teile zum Arbeiten nach Hause gebracht. Einigen hat das nicht geholfen, sie haben das Arbeiten in der Coronazeit &bdquo;verlernt“. 20 Prozent der Menschen in den Werkstätten haben eine psychische Krankheit. Darunter sind nicht wenige, für die der Umgang mit anderen Stress bedeutet. &bdquo;Einmal zu Hause war und ist es schwer, diese Menschen zurückzuholen“, so Plöger. Dazu kamen Verluste durch wegbrechende Aufträge und Produktionsstopps. Zulieferer der regionalen Wirtschaft Auf dem Weg aus dem Corona-Tal kamen der Ukrainekrieg und die Energiepreiskrise dazwischen. Zum einen müssen Werkstätten tiefer in die Tasche greifen, um den Strom zu bezahlen. Aber das ist nur ein kleiner Teil der bitteren Wahrheit. Der viel Bedeutsamere: Als Zulieferer vor allem der regionalen Wirtschaft sind sie davon abhängig, wie es dem Mittelstand geht. &bdquo;Wenn der, wie jetzt, anfängt zu husten, merken wir das“, bekräftigt Rudolf Langemann. Ein Beispiel? Der Chipmangel bremst die Produktion von Kraftfahrzeugen – für die liefert die Tischlerei der Lebenshilfe in Bega aber Leisten. Ruht die Produktion beim Kfz-Hersteller, dann gilt das auch für die Leistenfertigung in Bega. CDU-Politiker Zertik: &bdquo;Eine Reihe von Werkstätten sind konjunkturabhängig und haben daher schwankende Einnahmen.“ Eine Werkstatt kann ihre Mitarbeiter nicht in Kurzarbeit schicken, wie es normale Firmen tun. Stattdessen bleibt mehr Zeit für arbeitsbegleitende Maßnahmen: Rechnen, Schreiben, Snoezeln, Bogenschießen ... aus therapeutischer Sicht gut, aus wirtschaftlicher Sicht eher nicht. Kurzum: Kosten wachsen, Einnahmen schwinden. Und das, wo Experten bei einer Vollzeitstelle in der Werkstatt durchschnittlich ohnehin nur von einer effektiven Arbeitszeit von 20 bis 25 Stunden ausgehen. 600 Arbeitsplätze bei der Lebenshilfe betroffen In NRW ist das Problem am stärksten ausgeprägt, weiß Langemann. Denn hier genießen Werkstätten eine Sonderstellung: Sie nehmen auch Menschen mit einer Behinderung auf, die so schwer ist, dass null Produktivität zu erwarten ist. &bdquo;Ich bin großer Befürworter dieser Solidargemeinschaft, die wir so an keiner anderen Stelle des Erwerbslebens haben“, sagt Toepffer – wohl wissend, dass man sich das leisten will und können muss. Wenn nun die Werkstätten wanken, ist das keine Nische. Allein bei der Lebenshilfe Lemgo hängen 600 Arbeitsplätze für Menschen mit Behinderung und 140 &bdquo;normale“ Jobs an den Werkstätten mit Elektromontage, Tischlerei und Metallverarbeitung. &bdquo;Neben Wohnen sind die Werkstätten unser wichtigster Geschäftszweig“, sagt Langemann. &bdquo;Über viele Jahre waren die Werkstätten sogar die Zugpferde in der Behindertenhilfe.“ Jetzt sind sie eher das Sorgenkind, wie die Landesarbeitsgemeinschaft der Werkstätten für Menschen mit Behinderung unterstreicht. Sie forderte dieses Jahr eine Reform der Finanzierung, eine Diskussion um Grund- und Steigerungsbetrag sowie die Frage, woher das Geld kommen soll, wenn es Werkstätten nicht mehr stemmen können. Immerhin beruhigt Zertik: &bdquo;Bisher hat keine Werkstatt sich dem LWL als insolvenzgefährdet bezeichnet.“ Rückkehr zu den alten &bdquo;Bastelstuben“? Bleibt die Frage nach den behinderten Menschen selbst. Im Portemonnaie spüren die die Kürzung des Steigerungsbetrages, also ihrer Leistungszulage, gar nicht so sehr. Reicht doch das Geld, das sie in den Werkstätten bekommen, ohnehin nicht fürs Wohnen und Leben. Standard ist, dass diese Menschen Grundsicherung bekommen – fällt nun die Leistungszulage als Teil vom Lohn weg, kommt eben mehr vom Sozialamt. Rechte Tasche, linke Tasche? Es bleibt der fade Beigeschmack bei stärkeren Mitarbeitern der Werkstatt, dass sich Leistung kaum noch lohnt. Dreht sich das Rad gar zurück zu den &bdquo;Bastelstuben“, wie die Behindertenwerkstätten nach dem Zweiten Weltkrieg verniedlicht wurden? Ausschließen will Langemann das nicht, wenn dadurch doch mehr leistungsfähige Mitarbeiter den Absprung auf den ersten Arbeitsmarkt wagen und nur die bleiben, die mehr gefördert als gefordert werden. Dabei profitierten alle vom Miteinander – und von den geregelten Strukturen, zu denen für viele bereits der Weg zur Arbeit gehört. Langemann: &bdquo;Wir haben ganz viele Beschäftigte, bei denen das Leben in der Werkstatt die einzigen Kontakte im Laufe des Tages sind.“ Teilhabe am Arbeitsleben ist Teilhabe am Leben, meint eeWerk-Leiter Markus Toepffer. Revolutionärer Vorschlag: Mindestlohn Um die klammen Kassen der Werkstätten wissen auch die Politiker beim Landschaftsverband Westfalen-Lippe. Das Thema steht auf der Tagesordnung, sagt der lippische SPD-Mann in der Landschaftsversammlung in Münster, Antonius Grothe. Er verweist auf eine Resolution, die gerade mal wenige Wochen alt ist. Darin verweisen die Politiker auch auf die finanzielle Belastung, die der LWL stemmt, und sich diese bei den Kreisen, Städten und Kommunen wiederholt. Zum Retter bedrohter Werkstätten könne sich der LWL so nicht aufschwingen, betont Grothe: &bdquo;Der LWL hat nur die finanziellen Mittel, die per Umlage und vom Land eingezahlt werden.“ Mit der Resolution sei aber eine Warnung an Bund und Land adressiert: Es gebe großen Reformbedarf bei der Finanzierung, höhere Bundeszuschüsse täten Not. Geradezu revolutionär demgegenüber ist der Vorschlag der NRW-Werkstatträte: Sie möchten den Menschen mit Behinderung sogar Mindestlohn zahlen – im Gegenzug entfiele dann die Aufstockung durch die Grundsicherung. Markus Toepffer, Chef beim &bdquo;eeWerk“, spricht von einer &bdquo;guten Idee“ bei der Transferleistungen getauscht würden. Die Mehrausgaben würden auf bundesweit gerade mal 2,6 bis 4 Milliarden taxiert, weniger als ein Prozent der Bundesausgaben. Toepffer: &bdquo;Ob der Haushaltskrise befürchte ich aber, dass die jüngsten Erhöhungen erst einmal das Ende der Fahnenstange waren“. CDU legt Wert auf Wahlfreiheit Nach Worten der CDU-Bundestagsabgeordneten Kerstin Vieregge ist es Ziel der Fraktion, die Situation der Werkstattmitarbeiter zu verbessern. Zwei Anträge seien so in der Wahlperiode eingebracht worden – für ein &bdquo;existenzsicherndes, transparentes Entgeltsystem“. Sagen zumindest Kerstin Vieregge und Parteifreund Wilfried Oellers. Was für die CDU unstrittig sei: die Wahlfreiheit. Vieregge: &bdquo;Das Wunsch- und Wahlrecht gilt auch für den inklusiven Arbeitsmarkt“ Eine Klarstellung, die offensichtlich Not tut, betont doch eine aktuelle Studie vor allem den besseren und leichteren Übergang von den Werkstätten in den regulären Arbeitsmarkt. Vieregge: &bdquo;Die Beschäftigten entscheiden, wo und mit wem und, ob sie lieber auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt oder in der Werkstatt arbeiten wollen.“

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