Detmold (dpa). Es geht um barbarische, grausame und menschenverachtende Taten: Der Strafprozess vor dem Detmolder Landgericht nach dem jahrelangen sexuellen Missbrauch von Kindern auf einem Campingplatz in Lügde wird brutale Gewalt gegen Mädchen und Jungen zutagefördern. In erschütterndem Ausmaß. Die jüngsten Opfer sollen erst vier Jahre alt gewesen sein.
Drei Männer – allesamt seit Monaten in Untersuchungshaft – werden am 27. Juni auf der Anklagebank sitzen. Dem heute 56-jährigen Dauercamper Andreas V. werden 298 Straftaten vorgeworfen. 23 Mädchen sollen Opfer seiner Quälereien im Sommer 1998 und von Anfang 2008 bis Ende 2018 geworden sein. Bei zehn Kindern wirft ihm die Staatsanwaltschaft vor, mehrfach „Beischlaf" vorgenommen zu haben und Handlungen, die „mit einem Eindringen in den Körper verbunden gewesen sein sollen".
Kinderhilfe beklagt "Bagatellisierung"
Das sei dem Grunde nach Vergewaltigung, sagt Rainer Becker, Vorsitzender der Deutschen Kinderhilfe. „Was juristisch korrekt als „schwerer sexueller Missbrauch von Kindern" bezeichnet wird, ist sprachlich bagatellisierend." Der 34-jährige Mario S. soll der Staatsanwaltschaft zufolge in 162 Fällen acht Mädchen und neun Jungen missbraucht haben, manche schwer. Über einen Zeitraum von 20 Jahren – 1999 bis Anfang 2019. Auch er soll vergewaltigt haben.
Dem Vorwurf zufolge filmten beide Männer manche Gewalttaten. Zu den Übergriffen soll es auf der Campingplatz-Parzelle von Andreas V. in Lügde (Kreis Lippe) gekommen sein, aber auch in der Wohnung von Mario S. in Steinheim bei Höxter. Der dritte Angeklagte, der 49-jährige Heiko V. aus dem niedersächsischen Stade, soll teilweise zu den Taten angestiftet haben. Alle drei Männer sind Deutsche.
Opferanwalt hofft auf Geständnisse
Der Bielefelder Opferanwalt Peter Wüller hofft, dass die Kinder nicht vor Gericht aussagen müssen. „Kein einziges Opfer sollte erscheinen müssen." Sollte das im Ausnahmefall unumgänglich sein, solle das Kind von einem Psychologen vorbereitet und begleitet werden. Wüller vertritt zwei Opfer. Ein heute sechsjähriges Mädchen und einen neunjährigen Jungen, die nun psychologisch und psychiatrisch in einer speziellen Einrichtung betreut würden. Zur Zeit der angeklagten Taten sei das Mädchen „fünf Jahre und jünger", der Junge „acht Jahre und jünger" gewesen.
Beide sollen mehrfach schwer sexuell missbraucht und vergewaltigt worden sein. Wüller wird die Verhandlungen als Nebenkläger-Vertreter verfolgen. Das Gericht hat insgesamt 27 Nebenkläger zugelassen, die von 17 Anwälten vertreten werden. Wüller sagt, es gebe zahlreiche Aussagen von Opfern und umfangreiches Bild- und Videomaterial, das die vorgeworfenen Gewalttaten dokumentiere. Er hoffe, dass mindestens für die beiden Hauptangeklagten nach einer Haftstrafe Sicherungsverwahrung angeordnet werde.
Was Wüller umtreibt: „Wir haben es nicht mit einem singulären Tatgeschehen zu tun, sondern wir reden von einem massenhaften, jahrelangen Missbrauch von Kindern auf öffentlichem Grund." Er könne nicht nachvollziehen, dass so lange niemand etwas bemerkt haben soll.
"Warum hat keiner etwas bemerkt?
Der unabhängige Beauftragte für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs, Johannes-Wilhelm Rörig, schildert: „Wenn Missbrauch aufgedeckt wird, lautet eine der ersten Fragen immer: Warum hat keiner etwas bemerkt? Wir haben oft – wie auch im Fall Lügde – eine Täterstrategie des netten, beliebten, scheinbar kinderfreundlichen Menschen, der alle damit blendet und manipuliert."
Eltern sollten viel größere Sensibilität entwickeln und realisieren, dass Missbrauch auch das eigene Kind treffen könne. „Die unangebrachte Sorglosigkeit, mit der manche Eltern ihre Kinder anderen anvertrauen, ist erschreckend."
Hinweise ignoriert, bei Ermittlungen geschlampt
Im Fall Lügde gab es aber erste Hinweise. Polizei und Jugendämter stehen in der Kritik, weil sie Hinweisen auf den Hauptverdächtigen nicht nachgegangen sein sollen. Auch bei den Ermittlungen gab es Pannen, unter anderem verschwanden Beweismittel. Besonderes Leid soll der Pflegetochter von Andreas V. zugefügt worden sein. Sie ist heute acht Jahre alt. Sie war fünf, als sie im Frühjahr 2016 für rund zweieinhalb Jahre in die heruntergekommene Campingunterkunft in Lügde einzog. In dieser Zeit wurde sie laut Verdacht immer wieder sexuell misshandelt, weit mehr als hundert Mal. Skrupellos.
Der Landkreis Hameln hatte den Dauercamper als Pflegevater eingesetzt, wohl auf Wunsch der überforderten leiblichen Mutter. Das Mädchen musste als Lockvogel herhalten, andere Kinder mitbringen. Es gab Ausflüge, Geschenke – und Drohungen, ja nichts zu verraten.
Therapeutische Begleitung nötig
Rörig betont, während des Ermittlungs- und Strafverfahrens sei für die Kinder stabilisierende therapeutische Unterstützung wichtig. „Um zu spüren, dass das Leben jetzt wieder sicher ist." Das könne auch ein erster Schritt sein, um die zugefügte Gewalt zu verarbeiten. „Ein Verfahren, dass unter Berücksichtigung aller kindgerechten Standards durchgeführt wird, kann für manche Kinder eine Chance für eine Verarbeitung des Erlebten sein."
Missbrauch heiße auch, allein zu sein mit unfassbaren Taten, ausgeliefert dem Peiniger. Ein sensibles Gerichtsverfahren bedeute für das Kind, „dass es eine mächtigere Instanz gibt als den Täter und dass die Ohnmacht ein Ende findet". Die Kinder seien „im Innersten getroffen", stellt Roland Weber als Opferbeauftragter des Landes Berlin heraus. „Sie leiden unter körperlichen und besonders psychischen Langzeitfolgen. Betroffen sind ihr Selbstwertgefühl, die eigene Sexualität."
Weber meint, bei glaubhaften und umfassenden Geständnissen könne den Opfern oft eine Zeugenaussage erspart werden. Opferanwalt Roman von Alvensleben hofft ebenfalls auf Geständnisse. Er vertritt eine heute Zehnjährige, die 2018 Opfer sexueller Gewalt worden war. Mit Blick auf den 56-Jährigen sagt der Anwalt: „Wir wollen, dass der nicht mehr aus dem Gefängnis herauskommt.»
INFORMATION
Chronik der Pannen
2008: Der Hauptverdächtige soll ein achtjähriges Mädchen auf dem Campingplatz missbraucht haben, wie die Ermittlungen ergaben.
August 2016: Hinweise eines Vaters an Polizei, Jugendamt und Kinderschutzbund. Die Polizei schaltet das Jugendamt ein, ermittelt aber nicht.
November 2016: Hinweis aus dem Jobcenter Blomberg (NRW), dass Äußerungen des heutigen Hauptverdächtigen auf sexuellen Missbrauch hindeuten könnten. Die Polizei informiert das Jugendamt, ermittelt aber nicht.
Oktober 2018: Hinweis auf sexuellen Missbrauch auf dem Campingplatz Lügde bei der Polizeibehörde im niedersächsischen Bad Pyrmont. Aus dem Landkreis Hameln-Pyrmont stammt das Pflegekind. Die Polizei befragt es.
Dezember 2018: Festnahme des Hauptverdächtigen.
Januar 2019: Weitere Festnahmen. Ein Mann aus Steinheim bei Höxter soll am Missbrauch direkt beteiligt gewesen sein. Ein Mann aus Stade in Niedersachsen soll Material bestellt und per Webcam-Übertragung Missbrauch beobachtet haben.
30. Januar 2019: Polizei Lippe und Staatsanwaltschaft gehen an die Öffentlichkeit.
31. Januar 2019: Die Staatsanwaltschaft Detmold leitet Strafverfahren gegen zwei Polizisten aus Lippe ein. Sie sollen Missbrauchshinweise zwar an Jugendämter weitergegeben, aber nicht ermittelt haben. Das Polizeipräsidium Bielefeld übernimmt die weiteren Ermittlungen.
Februar 2019: Die Staatsanwaltschaft ermittelt auch gegen Mitarbeiter der Jugendämtern in Lippe und Hameln und will klären, ob Hinweise missachtet wurden.
22. Februar 2019: NRW-Innenminister Herbert Reul (CDU) informiert die Öffentlichkeit über den Verlust eines Teils des Beweismaterials bei der Kreispolizei Lippe. Aus einem Raum des Kriminalkommissariats sind ein Alukoffer und eine Hülle mit 155 Datenträgern verschwunden.
Ende Februar bis Anfang März 2019: Erneut Durchsuchungen. Auf dem Campingplatz in Lüdge findet ein speziell ausgebildeter Suchhund weitere Datenträger. Auch zwei Wohnungen werden durchsucht.
19. März 2019: Der Landrat des Kreises Hameln-Pyrmont räumt massive Fehler des Jugendamtes Hameln im Jahr 2016 ein.
9. April 2019: Der Besitzer des Campingplatzes lässt die Parzelle des Hauptbeschuldigten mit schwerem Gerät räumen. Dabei werden in der stark verschachtelten Behausung erneut Datenträger gefunden. Die Polizei begleitet den Abriss am freigegebenen Tatort nicht.
17. Mai 2019: Zwei Anklagen sind zugestellt. Dem Hauptverdächtigen werden 293 Fälle vorgeworfen. Beim mutmaßlichen Komplizen aus Stade geht es um vier Fälle, bei denen er an Webcam-Übertragungen des Dauercampers teilgenommen haben soll.
29. Mai 2019: Dritte Anklage. Die Staatsanwaltschaft wirft dem zweiten Hauptverdächtigen aus Steinheim in 162 Fällen über 20 Jahre sexuellen und schweren sexuellen Missbrauch von 17 Kindern vor.
17. Juni 2019: Das Amtsgericht Detmold bestätigt eine vierte Anklage. Der Angeschuldigte sei zur Tatzeit noch Jugendlicher gewesen. Deshalb werden keine Details genannt.
19. Juni 2019: Knapp eine Woche vor Start des Prozesses am 27. Juni hat das Landgericht 27 Opfer als Nebenkläger zugelassen.