Detmold (dpa). Für die hochbetagten Überlebenden des Holocaust ist der Auschwitz-Prozess in Detmold eine der letzten Möglichkeiten, vor einem deutschen Gericht Gehör zu finden. In der seit Februar laufenden Verhandlung gegen einen 94-jährigen ehemaligen Wachmann der SS haben sie Zeugnis abgelegt über die Gräuel der Tötungsmaschine. Vor den erwarteten Plädoyers ihrer Anwälte lesen Sie hier die bewegenden Aussagen der letzten Zeitzeugen des dunkelsten Kapitels deutscher Geschichte.
Leon Schwarzbaum
Als 22-Jähriger wurde er in seinem oberschlesischen Dorf verhaftet und wie schon seine Familie nach Auschwitz deportiert. Bis heute verfolgen ihn Bilder brennender Schlote der Krematorien und von Menschen, die wie Vieh in die Gaskammern transportiert werden. Mit sehr direkten Worten richtete er sich zum Prozessauftakt an den Angeklagten: „Wir sind fast gleichalt und wir stehen bald vor dem höchsten Richter. Ich möchte Sie auffordern, uns die historische Wahrheit zu erzählen". Heute lebt Schwarzbaum in Berlin.
Justin Sonder
Als 17-Jähriger, der sich vor den SS-Schergen als Monteur ausgibt, überlebt Justin Sonder das KZ - und insgesamt 17 Selektionen. Im Zeugenstand berichtete der heute 90-Jährige von der quälenden Todesangst, der er sich wieder und wieder ausgesetzt sah, wenn jene Häftlinge aussortiert und in die Gaskammern geschickt wurden, die schwach und krank waren. Auch die Willkür der SS-Wachleute schilderte er: „Ich habe erlebt, wie Häftlinge erschossen wurden, weil sie aus der Reihe gelaufen sind". Heute lebt Sonder in Chemnitz, er hat viele Jahre als Kriminalpolizist gearbeitet.
Erna de Vries
„Auschwitz war immer Brüllen und Schlagen", sagte die in Kaiserslautern geborene Erna de Vries. Sie hatte darauf bestanden, ihre Mutter nach Auschwitz zu begleiten, ohne zu wissen, was sie dort erwartet. Mit 19 Jahren entging sie knapp der Vergasung. Sie sei kurzfristig von einem SS-Mann im Todesblock 25 für einen Transport ins Lager Ravensbrück ausgewählt worden. „Wenn er zehn Minuten später gekommen wäre, wäre ich ins Gas gekommen." Die Mutter wurde ermordet. An ihre Worte beim Abschied erinnert sich die heute 92-Jährige vor Gericht: „Du wirst überleben, und du wirst erzählen, was man mit uns gemacht hat". Dem folgt die heute in Lathen im Emsland lebende Frau auch mit Vorträgen in Schulen.
Tibor „Max" Eisen
Max Eisen war 15 Jahre alt, als er und seine Familie in Viehwaggons nach Auschwitz deportiert wurden. Gerade erst dort angekommen, wurde er unmittelbar mit der Grausamkeit der Wachleute konfrontiert: Im Duschraum wurde er Zeuge, wie ein Wachmann einen kurzsichtigen Häftling schikanierte. Als ihm die Brille von der Nase fiel und er sich bückte, um sie zu suchen, trat er auf den Häftling ein, wieder und wieder: „Ich konnte seine Rippen krachen hören. Der Wachmann, völlig in Rage, trat und stampfte weiter auf den Mann ein, bis er tot war".
Eisen selbst arbeitete zehn Stunden auf den Feldern, bei täglichen 200 Kalorien Nahrung. Als ihn der Gewehrkolben eines Wachmannes am Kopf trifft, verschafft ihm ein Mithäftling Schutz vor der Selektion: Mit einem weißen Kittel wird er zum OP-Helfer und muss herausgebrochene Goldzähne und Füllungen säubern. Über die SS-Leute sagt er heute: „Jeder von ihnen war ein Rädchen in einer gut geölten Maschine der Zerstörung. Jeder spielte seine Rolle in der Entmenschlichung der Zwangsarbeiter, jeder trug damit zum Völkermord an den Juden bei." Eisen wanderte nach dem Krieg nach Toronto (Kanada) aus.
Irene Weiss
Irene Weiss wurde mit nur 13 Jahren mit ihrer Familie nach Auschwitz verschleppt. Im Lager erlebt sie, wie Wachleute grundlos Frauen auspeitschen oder ihre Hunde zur Belustigung auf die Gefangenen hetzen. „Es war offensichtlich, dass wir den SS-Wachmännern noch weniger wert waren als Sklaven." Fast alle Familienmitglieder sterben in den Gaskammern. Dass ihre Mutter und zwei kleine Brüder nicht entkamen, weiß sie von einem historischen Foto, dass sie erst viel später fand: Es zeigt sie mit anderen in einem kleinen Wäldchen nahe der Krematorien. Heute lebt Weiss im Bundesstaat Virginia in den USA.
William „Bill" Glied
Der 85-jährige Jude stammt aus dem heutigen Serbien. Als kleiner Junge wird er gemeinsam mit seiner Familie in überfüllten Waggons von Ungarn aus nach Auschwitz gebracht. Die Erinnerung an die Ankunft an der Rampe verfolge ihn bis heute, wo brutales Chaos herrschte, Familien für immer getrennt wurden und SS-Leute auf die Ankommenden einschlugen.
Für ihn sei dieser Ort schlimmer als Dantes siebter Höllenkreis. „Dieser Ort ist der stumme Zeuge des unglaublichen Ereignisses, dass eine kleine Gruppe Männer, unterstützt von ein paar Tausend SS-Männern, die den Ort bewachten, unschuldige Menschen zu einem schrecklichen Tode verurteilten", übersetzten die Dolmetscher die englisch-sprachige Aussage Glieds. Heute lebt er in Toronto.
Mordechai Eldar
Der Israeli Mordechai Eldar ist 13 Jahre alt, als er an der Rampe zum NS-Vernichtungslager Auschwitz von seinen Eltern und jüngeren Brüder getrennt wird. Eindrücklich schilderte er die Gewalttätigkeit der zu Aufsehern gemachten Blockältesten unter den Gefangenen. „Wer nicht schnell genug auf die Pritschen sprang, wurde geschlagen. Wer sprach, wurde geschlagen. Wer nachts auf die Latrine ging, wurde geschlagen." Auch von sexuellem Missbrauch an Kindern und Schaukämpfen, zu denen Gefangene gezwungen wurden, berichtete er.
Ben Lesser
„Ich war etwa zehn Jahre alt, als meine ganze Welt zusammenbrach, als die Nazis einmarschierten." Lessers Geschichte fing in Polen an. An Panzer und schwarze Stiefel konnte er sich im Zeugenstand erinnern. 1943 flüchtete er als 14-Jähriger im doppelten Boden eines Lkw nach Ungarn. Ein Jahr später wurde er nach Auschwitz deportiert und erlebte Grauenvolles. Nachts habe er Feuerschein beobachtet und Kinderschreie gehört. Man erklärte ihm, dass Leichen aus den Gaskammern in Feuergruben verbrannt und darauf Kinder geworfen würden. „Das ist das Schreien der Kinder", sagte der Stubenälteste.
Lesser, der heute in Las Vegas lebt, appellierte an alle Zuhörer im Gericht: „Sie gehören zu den letzten Menschen, die Aussagen noch von Überlebenden direkt hören können." Sie sollten es nutzen, damit es keinen weiteren Holocaust gibt.
Angela Orosz Richt-Bein
Die 72-Jährige war unter den widrigsten Umständen 1945 in Auschwitz zur Welt gekommen. Sie ist eines von nur zwei dort geborenen Kindern, die das Vernichtungslager überlebten. Trotz der Sterilisierungsexperimente, die Lagerarzt Josef Mengele an ihrer Mutter vorgenommen habe, sei sie zur Welt gekommen. Diese Experimente seien aber der Grund dafür, dass sie keine Geschwister mehr bekommen habe. Die SS bekam von der Geburt nichts mit, weil sie nur ein Kilo gewogen habe und nicht schreien konnte. Fünf Wochen später sei Auschwitz befreit worden. Ein Arzt habe ihr später in Ungarn kaum Überlebenschancen eingeräumt. „Nach einem Jahr habe ich drei Kilo gewogen, soviel wie andere Kinder bei der Geburt." Der Arzt habe ihr geholfen. Nach Jahren habe sie gehen können.
Hedy Bohm
Die heute 87-jährige Hedy Bohm war als Jugendliche mit ihren Eltern nach Auschwitz deportiert worden. Die Eltern habe sie seit der Ankunft in Auschwitz nicht mehr wiedergesehen, berichtete sie. Sie selbst sei nach Monaten gemeinsam mit anderen Gefangenen zur Zwangsarbeit in eine Munitionsfabrik nach Fallersleben gebracht worden. Zuvor war die Gruppe offenbar schon zur Ermordung in der Gaskammer vorgesehen, der Befehl wurde aber vermutlich kurzfristig abgeändert, sagte ein Anwalt der Nebenklage.
Bohm, die heute in Toronto lebt, forderte im Gericht wie schon andere Zeugen den angeklagten Reinhold Hanning auf, ihr in die Augen zu sehen. „Haben Sie keine Angst mich anzuschauen", sagte Bohm. Der 94-Jährige blickte aber auch dieses Mal nicht auf.
Imre Lebovits
Der damals 15-Jährige gibt heute der ungarischen Führung des Jahres 1944 eine große Mitschuld an der Vernichtung von zwei Dritteln der ungarischen Juden. Lebovits hatte während des Zweiten Weltkriegs den Großteil seiner Familie verloren, unter anderem seine Mutter im NS-Vernichtungslager Auschwitz. Wie damals viele Menschen in seiner Heimat über Juden dachten, hätten die Worte eines Ortsvorstehers gezeigt, sagte der Mann aus Budapest. „Auf Wiedersehen als Kompost", habe der Mann vor dem Abtransport von Hunderten Juden gesagt.