Unvergessene Geschichte

Materielle Not und Unsicherheit: Wie es in Steinheimer Orte nach dem Krieg war

Wissenschaftler Thomas Bauer erklärt, warum trotz vieler Kriegstoter die Einwohnerzahl in Bergheim stark stieg und was das für Folgen hatte.

Einst Notbehelf, später privatisiert: Der Vorsitzende der Dorfwerkstatt Bergheim, Peter Müller (l.), und Referent Thomas Bauer vor einem Wohnhaus, das die Gemeinde Bergheim in den 1950er-Jahren für die Unterbringung von Hilfsbedürftigen errichten ließ. | © Ulrich Frühling

26.09.2024 | 26.09.2024, 18:45

Steinheim-Bergheim. Ganze 706 Einwohner erbrachte die Volkszählung 1939 für das Dorf Bergheim. Elf Jahre später waren es 1.018 und damit 44 Prozent mehr, obwohl viele Männer auf den Schlachtfeldern des Zweiten Weltkrieg geblieben waren. „Dieser Zuwachs ist symptomatisch; er betrug in der Region im Schnitt etwa ein Drittel“, sagt Thomas Bauer.

Der Wissenschaftler hat die Nachkriegszeit in seinem Heimatdorf erforscht – und hält darüber auf Einladung der Dorfwerkstatt Bergheim einen weiteren Geschichtsvortrag. Interessant sei die Veranstaltung am Samstag, 28. September, im Pfarrheim (Beginn 15 Uhr) auch für Gäste aus anderen Orten, denn, so Bauer: „Diese entscheidende Phase verlief allerorten in etwa gleich – und sie wirkt bis heute nach“.

Die Kriegsjahre und die erste Zeit danach waren vor allem geprägt von einem Phänomen, für die Harald Jähner in seinem Bestseller „Wolfszeit“ den Begriff „das große Wandern“ geprägt hat. Die buchstäbliche Massen-Bewegung begann schon mit dem deutschen Überfall auf Polen.

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Die ersten Kriegsgefangenen in Steinheim

Viele Deutsche wurden eingezogen, im Gegenzug kamen schon sechs Wochen später die ersten Kriegsgefangenen in das Amt Steinheim. „Kein einziger Bauernhof im Dorf hätte ohne die Gefangenen und später die Zwangsarbeiter funktioniert“, betont Bauer.

Nach der Kapitulation der Gegentrend: Die Ausländer wollten zurück, konnten das aber oft nicht, weil Transportmittel fehlten oder im Herkunftsland Strafen drohten. Einige nahmen Rache; in Eichholz und Oeynhausen gab es Tote. Ausgebombte aus dem Ruhrgebiet hingen in Bergheim fest, weil in ihren Heimatorten Wohnungen fehlten.

Rückkehrer oft krank und traumatisiert

Währenddessen kehrten – oft krank und traumatisiert – die ersten Wehrmachtssoldaten heim und mussten eingegliedert werden. Im Sommer 1946 dann die größte Herausforderung: Vertriebene aus Schlesien wurden zwangsweise einquartiert – „und die waren entgegen heutigen Legenden keineswegs willkommen“, verweist Bauer auf Akten im Stadtarchiv.

Die frühe Nachkriegszeit war geprägt von materieller Not, aber auch von großer Unsicherheit. Was würden die Besatzungsmächte anstellen mit einem Land, das halb Europa in den Abgrund gestürzt hatte? Das wussten Amerikaner, Briten und Franzosen zunächst selbst nicht so genau und unterzogen die Deutschen – mit bescheidenem Erfolg – erst einmal einer „Entnazifizierung“.

Letzte Prozesse erst 1962

Das an den Juden verübte Unrecht sollte die „Wiedergutmachung“ zumindest finanziell ausgleichen. Der letzte solcher Gerichtsprozesse endete in Bergheim erst 1962. Zu dieser Zeit hatte das Dorf seinen historischen Umriss endgültig gesprengt: In der „Neuen Siedlung“ (heutiger Straßenname: Lindenhügel) wurden ab den späten 1950er-Jahren Vertriebene und Auszügler aus dem Dorfkern erst Nachbarn und dann auch Freunde.

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Die provisorischen Behelfsheime im Dorf verschwanden. Der wirtschaftliche Aufschwung erlaubte es schließlich, den dörflichen Lebensstandard dem städtischen anzugleichen: Mit Trinkwasserversorgung, Kanalisation, Turnhalle, asphaltierten Straßen und weiteren Annehmlichkeiten hielt die Moderne Einzug ins Dorf.

„Ein Blick ins TV-Programm belegt es: Das Interesse an Geschichte wächst seit Jahren. Diesem Trend tragen wir mit unserer Vortragsreihe Rechnung“, erläutert der Vorsitzende der Dorfwerkstatt Bergheim, Peter Müller. Der Verein hält auch diesmal Kaffee und Kuchen für die Zuhörer bereit. 2025 sollen laut Müller weitere Vorträge folgen – für deren Themen die Besucher eigene Vorschläge per E-Mail an dwbergheim@gmail.com machen können.