Bürgermeister Schlütz: „Das bereitet mir große Bauchschmerzen“

Herr Schlütz, gab es in den vergangenen 100 Tagen einen Moment, in dem Sie sich von Nieheim zurück in Ihr Frankfurter Büro gewünscht haben? Johannes Schlütz: Nein, einen solchen Moment gab es nie. Ich bin sehr froh, dass mich die Bürger in dieses Amt gewählt haben, weil es unwahrscheinlich vielfältig ist und man viel bewegen kann. Es ist sehr spannend, ich fühle mich pudelwohl. Natürlich freue ich mich auch über die Nähe zu meiner Familie. Es ist kein Vergleich zu meinem Job vorher. Inwiefern? Wir waren anfangs angetreten, das Geschäft mit Privatkunden aufzubauen. Das haben wir auch viele Jahre erfolgreich gemacht. Zum Schluss haben wir aber nicht mehr wie ein Unternehmen agiert. Dabei arbeiten Sie jetzt in einer klassischen Behörde. Wie wollen Sie die Verwaltung weiterentwickeln? Wir haben im Rathaus einige offene Baustellen, allen voran die Digitalisierung der Dokumente. Da werden wir ein Projekt aufsetzen und schauen, wie wir das am besten hinbekommen. Das gesamte gesellschaftliche und politische Leben ist derzeit von der Corona-Pandemie geprägt. Inwieweit hat das ihren Start erschwert? Der Eindruck täuscht etwas. Die Treffen, die man machen kann und darf, die führen wir natürlich durch. Ich sehe in der aktuellen Situation sogar eine große Chance, gerade in der Anfangszeit. Denn fast alle Repräsentationstermine fallen derzeit weg – gerade in der Abendzeit. Auch der Karneval findet nicht statt. Das gibt mir die Möglichkeit und die Ruhe, mich in viele Bereiche und Vorhaben intensiv einzuarbeiten und sie langfristig vorzubereiten. Das gilt natürlich auch für die Ratskollegen. Welche Projekte sind das? Unter anderem haben wir jetzt einen Vertrag mit der Nieheimer Brauzunft über die Weiternutzung des Biermuseums erarbeitet. Da muss man natürlich genau abwägen, was man der Brauzunft als Verein zumuten kann. Das waren sehr intensive Gespräche. Daraus habe ich versucht, einen Vertrag aufzusetzen, der ausgewogen ist. Auch strebe ich an, die Aufgaben des Finanzausschusses zu erweitern (siehe Infokasten). Dazu muss eine neue Satzung ausgearbeitet und müssen Ratsmitglieder mitgenommen werden. Das kostet sehr viel Zeit. Wie gestaltet sich die Zusammenarbeit mit dem Rat, in dem es im Dezember einen heftigen Streit zwischen CDU und SPD gab? Immerhin sind Sie als unabhängiger Kandidat angetreten. CDU, UWG und FDP haben sich zu einer Ratsmehrheit zusammengeschlossen und dazu eine Art Koalitionspapier verfasst. Ich habe den Eindruck, dass viele Punkte in diesem Papier mit den Vorstellungen und Zielen übereinstimmen, die ich für Nieheim in den kommenden fünf Jahren sehe bzw. habe. Die Grünen erweisen sich aus meiner Sicht als echter Aktivposten für die Nieheimer Ratspolitik. Die Gespräche mit allen Parteien sind sehr intensiv, und es gibt natürlich auch Widerstände. Ich würde mich sehr freuen, auch die Sozialdemokraten an einigen Stellen künftig noch stärker mitnehmen zu können. Eine Opposition ist in einer Demokratie durchaus wichtig. Natürlich. Aber die gab es in den vergangenen fünf Jahren in Nieheim auch nicht. Für mich ist es wichtig, dass die Zukunftsentscheidungen für Nieheim offen, intensiv und gerne auch kontrovers diskutiert werden. Wir müssen weiter hart daran arbeiten, Themen gemeinschaftlich zu entwickeln und immer die beste Lösung für Nieheim zu finden. Wie wollen Sie das erreichen? Für strategische, zukunftsweisende Themen möchte ich im Rat ein neues Format einführen. Einen Informationsabend für Ratsmitglieder, bei denen die Themen vorgestellt und offen diskutiert werden. Wo jeder Fragen stellen und frei Kritik äußern kann. Das ist aus meiner Sicht in einer öffentlichen Ratssitzung oft schwierig. Ich glaube, es ist zu viel verlangt, für Nieheim langfristig prägende Projekte ein paar Tage vor der Sitzung nur in eine Beschlussvorlage zu packen und dann zu sagen, entscheide mal darüber. Ich kann nicht über ein Thema beschließen, über das ich mich noch informieren muss. Dieses Format ist auch für die Verwaltung völlig neu und braucht einige Überzeugungsarbeit. Aus demokratischer Sicht birgt das allerdings die Gefahr der Intransparenz. Was haben wir denn bisher gemacht? Die Themen sind häufig gar nicht offen, sondern nur mit den Fraktionschefs besprochen worden. Es geht ja nicht um konkrete Planungsprozesse. Es geht vielmehr um ein Brainstorming, bei dem jeder sagen kann, was er denkt. Die Öffentlichkeit wird natürlich über die öffentlichen Ratssitzungen eingebunden, in denen die Entscheidungen fallen. Ich sehe die Gefahr der Intransparenz nicht, denn die Themen werden von den Parteien mit mehr Hintergrund nach außen getragen. Vielmehr glaube ich, dass es viel öffentlicher sein wird, als es vorher war, und wir erhöhen die Chancen, dass es vernünftig diskutiert wird. Themenwechsel. Gerade finanziell hat es Nieheim strukturell nicht einfach. Die Haushaltssicherung konnte in den vergangenen Jahren aber vermieden werden. Wie schwer ist Nieheim im Moment von den Corona-Auswirkungen betroffen? Wir haben Glück, dass derzeit die Gewerbesteuer in Nieheim stabil ist. Herr Becker hatte sie am Anfang des Jahres 2020 auch sehr vorsichtig geschätzt, deshalb werden wir die Planzahlen auch erreichen. Wir stehen an dieser Stelle sehr gut da. Wir müssen uns nicht verbiegen, um die Haushaltssicherung zu vermeiden. Aber fast alle Nieheimer Einzelhändler, Gastronomen und Kleinunternehmer leiden sehr unter den Folgen. Richtig. Als Stadt können wir natürlich nur begrenzt helfen. Wir haben in einigen Fällen versucht, individuelle Lösungen zu finden oder an andere Stellen wie die Gesellschaft für Wirtschaftsförderung im Kreis Höxter weiterzuvermitteln. Anderen Unternehmen wie Baufirmen, Handwerkern und Metallbauunternehmen geht es hingegen vergleichsweise gut. Stichwort Wirtschaftsförderung. Die haben Sie im Wahlkampf zu Ihrem wichtigsten Thema erklärt. Welche Akzente haben Sie bereits setzen können? Ich habe einen Verteiler aufgebaut, um die Unternehmer überhaupt zu erreichen. Es gab bereits diverse Einzelgespräche, in denen wir Lösungen für einige Problemstellungen finden konnten. Auch im Gewerbegebiet tut sich etwas. Man merkt, dass sich in Nieheim etwas bewegt und wir offener für Unternehmer und Selbstständige werden. Aber gerade das Nieheimer Gewerbegebiet hat seine Grenzen. Das ist eines der Hauptthemen im Moment für Nieheim. Denn im neuen Regionalplan sind für Nieheim 18 Hektar zusätzlich ausgewiesen. Nur – bis auf ein paar Restflächen – nicht wo. Ich möchte aber gern wissen, ob diese Potenzialflächen bei uns überhaupt entstehen können und wo. Damit beschäftigen wir uns im Moment sehr intensiv. Denn bis Ende März muss die Stellungnahme der Stadt zum Regionalplan bei der Bezirksregierung vorliegen. Für echte Industriebetriebe sind in Nieheim allerdings keine Flächen vorgesehen – für die steht das Industriegebiet Bergheim zur Verfügung. Der Regionalplan lässt auch kaum Spielraum für die Neuausweisung von Baugebieten, zumal auch im Bereich Lehmkuhle von den 28 Bauplätzen kaum noch welche verfügbar sind. Das bereitet mir tatsächlich große Bauchschmerzen, weil ich nicht sehen kann, wie sich Nieheim hinsichtlich des Wohnens weiterentwickeln kann. Dabei ist die Nachfrage da. Der Regionalplan weist 4,5 Hektar für neue Bauplätze in den kommenden 20 Jahren aus. Das sind zwei Baugrundstücke pro Jahr. Auch da steht im Regionalplan nicht, wo das in Nieheim sein soll. Wir möchten uns in den kommenden Wochen ein Bild davon verschaffen, wo das überhaupt möglich ist. Das Einzige, was ausgewiesen ist, sind zwei Wiesen an der Ostwestfalenstraße Richtung Holzhausen. Dort will aber keiner bauen – wegen der Straße. Wir haben beispielsweise in Eversen das Problem, dass eine junge Familie kein Grundstück oder ein älteres Haus zum Umbau gefunden hat. Keine Chance. Trotz intensiver Suche. Wir haben dennoch für Bauwillige jeweils einen Bebauungsplan in Nieheim und Holzhausen geöffnet, um Bauwilligen zu ermöglichen, ihre eigenen Vorstellungen besser umzusetzen. Wo liegen aus Ihrer Sicht Nieheims Chancen? Ich habe das Gefühl, dass die Bevölkerungszahl in Nieheim mittlerweile stagniert und wir den Schwund stoppen können. Unsere Chance liegt nicht zuletzt in der Nähe zu Paderborn, den preiswerten Bauplätzen und zugleich einer wunderschönen Umgebung. Aber auch die direkte Anbindung an die Ostwestfalenstraße ist ein großer Vorteil. Eine große Chance sehe ich zudem in den erneuerbaren Energien, die Nieheim noch stärker für sich nutzen kann.

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